JULIA WEIHNACHTSBAND Band 22
sie völlig irritiert an. „Sie operieren nicht hier?“
Jodie schüttelte den Kopf. „Nein, wir werden ihn in eine Spezialklinik nach Cambridge überweisen. Ich weiß, die Entfernung ist schwierig für Sie …“
„Es geht um unseren Sohn“, unterbrach Mr. Bentley sie. „Für ihn würden wir jeden Weg auf uns nehmen, selbst bis nach Australien.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Jodie reichte ihm lächelnd die Hand.
„Haben Sie Kinder?“, fragte er.
„Nein, noch nicht“, gab sie zu.
„Dann wissen Sie nicht, wovon wir sprechen“, erwiderte er harsch.
Jodie nahm ihm diese Attacke nicht übel. Ihr war bewusst, unter welch einem Leidensdruck die Eltern jetzt standen. Wenn dieser kurze Wutausbruch Mr. Bentley half, mit der Situation besser klarzukommen, konnte sie damit leben. Auch wenn er eine Wunde aufgerissen hatte, die kaum begonnen hatte zu heilen.
„Nein, das stimmt. Ich kann mich natürlich nicht wirklich in Sie hineinversetzen. Aber ich habe einen Patensohn, den ich sehr liebe, und ich denke, es würde mich hart treffen, wenn er an Conors Stelle wäre.“ Offen blickte sie ihn an.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Mr. Bentley kopfschüttelnd. „Ich habe es nicht so gemeint. Aber die Situation …“
„Kein Grund, sich zu entschuldigen. Machen Sie sich darüber keine Gedanken“, unterbrach Jodie ihn freundlich. „Und wir werden unser Bestes für Conor tun. Das verspreche ich Ihnen.“
„Ich danke Ihnen.“
„Jetzt gibt es noch eine Menge Dinge zu klären und Formulare auszufüllen. Möchten Sie einen Tee währenddessen?“, schlug Jodie vor.
„Das wäre nett. Vielen Dank“, sagte Mrs. Bentley mit belegter Stimme. Jodie vermutete, dass sie erneut mit den Tränen kämpfte.
Dann sah sie hinüber zu Sam. Der Ausdruck seiner Augen war unergründlich, doch sie waren wieder grau und trist. Er schien sich ernstlich Sorgen zu machen.
Nachdem Jodie mit den Bentleys in die Cafeteria gegangen war, blieb Sam allein zurück. Er stützte den Kopf in die Hände und atmete tief durch. Er wusste, dass es richtig gewesen war, Jodie zu dem Gespräch dazuzubitten. Doch für ihn persönlich war ihre Anwesenheit eine Qual gewesen. Als die Eltern dann auch noch von der künstlichen Befruchtung erzählt hatten, konnte er ihrem Blick nicht länger ausweichen. Und er hatte in ihren Augen gesehen, dass sie dasselbe dachte wie er: Dieses Schicksal hätte auch sie beide treffen können – Jahr um Jahr auf ein Baby zu hoffen und zu warten. Und selbst wenn ihr Wunsch nicht erfüllt würde, wären sie immer noch ein Paar, das dem Schicksal trotzte. Und er hatte all dies achtlos fortgeworfen.
Er stöhnte. Sie würde jemand anders kennenlernen. Eine warmherzige, schöne, humorvolle und fröhliche Frau wie Jodie – sie würde einen Mann finden, der sie begehrte. Und der ihren Wunsch nach einem Kind erfüllen konnte.
Wenn doch nur er dieser Mann sein könnte.
11. KAPITEL
Mit einem Blick auf ihre Uhr stellte Jodie erschrocken fest, dass es bereits höchste Zeit für die Visite war. Wenn sie Glück hatte, war Sam im Beratungsgespräch oder in der Notfallambulanz, sodass sie ihn nicht sehen musste.
Tatsächlich konnte sie die Runde auf der Station hinter sich bringen, ohne ihm zu begegnen. Doch als sie gerade heimgehen wollte, hatte offensichtlich auch Sam seinen Dienst in der Ambulanz beendet. Denn er öffnete die Tür zur Station und wäre fast mit ihr zusammengestoßen.
„Hallo Jodie“, sagte er überrascht.
„Du siehst schlecht aus.“ Die Worte waren heraus, ehe sie darüber nachdenken konnte.
Sam verzog den Mund zu einem Lächeln.
Erschrocken schloss sie die Augen und machte eine entschuldigende Geste. „Du weißt ja, dass ich nicht immer besonders taktvoll bin.“
„Allerdings.“
Sein Tonfall klang eher belustigt als beleidigt, und Jodie öffnete die Augen. Er sah wirklich erbärmlich aus. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen, und seine Haut sah grau aus vor Erschöpfung. Als habe er genauso gelitten wie sie, Nacht für Nacht. Immer wieder erwachte sie, stand auf, starrte in den dunklen Himmel und dachte darüber nach, was hätte sein können. Ob es ihm genauso ging?
„Geht es dir gut?“
„Ich werde es schon überleben“, erwiderte er trocken. „Und dir?“
Erschrocken spürte sie Tränen in ihren Augen aufsteigen. Eilig ging sie an ihm vorbei zum nächsten Waschraum und wollte die Tür hinter sich schließen, doch sie war nicht schnell genug. Sam hielt die Tür auf und
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