Julia Weihnachtsband Band 26
Harrys Vater sucht?“
„Ganz und gar nicht. Seine Mutter hat mir in ihrem Letzten Willen das Sorgerecht übertragen.“
„Ach so.“
In Cullens Tonfall schwang so viel freudige Überraschung mit, dass Wendy den Kopf schüttelte. „Freu dich nicht zu früh. Sein leiblicher Vater hat Vorrang, ganz gleich, was Betsy verfügt hat.“
„Aber ich habe den Eindruck, du würdest ihn wirklich gern großziehen.“
Sie nickte. „Ich glaube, ich wäre eine gute Mutter. Ich liebe Harry sowieso, und Liebe ist einfach genau das, was er jetzt am dringendsten braucht.“
„Mich wundert, dass du keine eigenen Kinder hast.“
Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippe und war versucht, sich ihm anzuvertrauen. Doch ihr war klar, dass die in den letzten vierundzwanzig Stunden entstandene Vertrautheit eine Fehlentwicklung war, und deshalb wollte sie ihm nur das Grundsätzliche berichten und ihren Kummer für sich behalten. „Mein Mann und ich wollten erst finanziell abgesichert sein, bevor wir Kinder bekamen.“
Er neigte verstehend den Kopf und blickte Wendy fest an, als wüsste er, dass mehr hinter der Geschichte steckte. Als Wendy schwieg, sagte er: „Unterm Strich heißt das, dass Harry nur vorübergehend bei dir lebt.“
Es erleichterte und enttäuschte sie gleichermaßen, dass er nicht nachhakte. Sie hoffte wohl insgeheim, dass er eine Beziehung aufbauen wollte, doch dass er sie nicht weiter bedrängte, bewies das Gegenteil.
„Wie die Sache ausgeht, ist ungewiss. Vielleicht findet man seinen Dad, und der nimmt Harry zu sich. Vielleicht findet man ihn, und er will Harry nicht …“
Cullen riss die Augen auf. „Will Harry denn nicht?“
Sie schüttelte den Kopf. „Harry hat mir erzählt, er habe seinen Vater so lange nicht gesehen, dass er gar nicht mehr weiß, wie er aussieht. Er denkt, er sei im Gefängnis.“
„Das klingt nicht gut.“
Sie mied seinen Blick und spielte mit ihrem Teebeutel. „Wie auch immer, Harry bleibt bei mir, bis sie seinen Vater gefunden haben.“
Cullen fing ihren Blick ein. Ernst sah er ihr in die Augen. „Das ist schlimm. Ich finde, ihr zwei seid ein gutes Team.“
Sie lächelte. „Danke.“
Es wurde still in der Küche. Wendy entfernte den Teebeutel aus ihrem Becher und gab Milch und Zucker hinein. Sie trank einen Schluck und fragte: „Und du?“
„Was ist mit mir?“
„Ich habe dir vielleicht nicht meine ganze Lebensgeschichte erzählt, aber du weißt jetzt Dinge von mir, die viele Leute in der Fabrik nicht wissen. Da wäre es nur gerecht, dass du mir etwas über dich erzählst.“
„Ehrlich gesagt, da gibt es nicht viel zu berichten. Als meine Eltern sich vor fünf Jahren endlich zur Ruhe setzten, sind sie mit mir nach Miami gezogen, und mein Vater und ich haben eine kleine Investmentfirma aufgebaut.“
„Du arbeitest?“
„Natürlich arbeite ich.“
Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldige. Ich habe dich mir in Miami immer nur auf deiner Yacht, auf Partys und auf Ausflügen im Privatjet nach Las Vegas vorgestellt.“
Er lachte. „All das gestatte ich mir auch. Im Gegensatz zu dem großen Unternehmen hier in Pennsylvania ist unsere Firma in Miami klein. Ich setze mir meine Termine selbst. Gebe mir häufig frei. Du liegst mit deiner Vermutung also ziemlich richtig.“
„Aha“, sagte sie, und ihre Blicke trafen sich. Das Knistern vom Vortag war wieder da. Doch dieses Mal wussten sie beide, dass es ins Leere ging. Cullen war ein starker Mann, der sich sein Leben nach seinen eigenen Wünschen eingerichtet hatte. Wie ihr verstorbener Mann. Weil Greg so entschlossen, so energisch, so zielstrebig und sich seiner Wünsche so sicher war, hatte sie die Gelegenheit versäumt zu bekommen, was sie wollte … Nämlich Kinder mit ihm. Sie hatte sich geschworen, sich nie wieder mit dieser Sorte Mann einzulassen.
Außerdem war sie mittlerweile vielleicht mutiger, doch sie war und blieb eine Kleinstadt-Frau, die sich nichts sehnlicher wünschte als das Sorgerecht für den kleinen Jungen von nebenan. Selbst wenn sie ihre neu erarbeitete Selbstständigkeit mit jemandem aufs Spiel setzen wollte, der seine Lebensziele so klar und deutlich vor sich sah wie Cullen, war sie doch zu schlicht, zu durchschnittlich, um in seine extravagante, aufregende Welt zu passen.
Die Kluft zwischen ihnen hätte nicht größer sein können.
Der Motor des Kühlschranks sprang an. Der Mikrowellenherd piepste. In der Küche gingen die Lichter an.
Wendy löste sich aus Cullens Blick.
Weitere Kostenlose Bücher