Julia Winterträume Band 8 (German Edition)
dass sie keine reiche Witwe war?
Hatte sie den Mann verflucht, den sie geheiratet hatte – oder sich selbst? Und ihre Söhne? Gabriel verspürte einen schmerzlichen Stich im Herzen. Er hatte ihnen beim Spielen zugesehen und musste unwillkürlich an seine eigene Kindheit auf Sardinien denken. Nie würde er die unbarmherzige, grausame Jugend vergessen, die er selbst durchlitten hatte. Als er so alt gewesen war wie die beiden Jungen dort unten, hatte er für jede Brotkrume hart arbeiten müssen. Tritte und Verwünschungen hatten ihn gelehrt, sich blitzschnell zu ducken und zu fliehen. Aber er war ja auch ein unerwünschtes Kind gewesen, das die reichen Verwandten mütterlicherseits abgeschoben hatten, nachdem sein Vater einfach verschwunden war. Gabriel presste die Lippen zusammen. Er war bei Pflegeeltern aufgewachsen. Als Junge hatte er mehr Nächte draußen beim Vieh geschlafen als im Haus der Ziehfamilie, die ihn ebenso verachtet hatte wie die Verwandtschaft seiner Mutter.
Aus einer solchen Jugend ging man entweder gebrochen oder stahlhart hervor. Inzwischen würde ihn nichts und niemand von einem einmal gefassten Entschluss abbringen. Jetzt stand er über denen, die früher auf ihn herabgeblickt hatten.
Sein Großvater mütterlicherseits war das Oberhaupt einer der wohlhabendsten und mächtigsten Familien Sardiniens gewesen. Die Geschichte der Calbrinis war eng verwoben mit der Vergangenheit der Insel – sie war voller blutiger Fehden, Verrat, Rache und falschen Stolzes.
Seine Mutter war ein Einzelkind gewesen und mit achtzehn vor einer arrangierten Ehe davongelaufen, um einen armen, aber gut aussehenden jungen Bauern zu heiraten, den sie zu lieben glaubte.
Verwöhnt, wie sie war, musste sie jedoch nach einem knappen Jahr erkennen, dass sie einen Fehler begangen hatte, dass sie ihren Mann fast ebenso verabscheute wie die Armut in ihrer Ehe. Nach Gabriels Geburt hatte sie ihren Vater angefleht, ihr zu verzeihen und sie wieder zu Hause aufzunehmen. Er war dazu bereit gewesen, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie sich von ihrem Mann scheiden und das Kind bei seinem Vater ließ.
Seine Mutter sei damit sofort einverstanden gewesen, hatte Gabriel als Junge gehört. Ihr Vater habe Gabriels Erzeuger eine stolze Summe Geld gezahlt mit der Auflage, dass die Familie Calbrini damit jeder Verpflichtung gegenüber dem Kind aus der inzwischen geschiedenen Ehe entbunden wurde.
Daraufhin hatte Gabriels Vater, der plötzlich so viel Geld besaß wie noch nie in seinem Leben, seinen drei Monate alten Sohn seinem Cousin übergeben und war nach Rom gegangen, mit dem Versprechen, Geld für den Unterhalt seines Sohnes zu schicken. Doch in Rom hatte er gleich zu Anfang seine spätere zweite Frau kennengelernt, die nicht einsah, warum sie sich mit einem fremden Kind belasten sollte, und auch nicht wollte, dass ihr Mann Geld für den Kleinen verschwendete.
Daraufhin hatten Gabriels Pflegeeltern sich an seinen Großvater gewandt. Sie waren arm und konnten es sich nicht leisten, ein Kind durchzufüttern. Doch Giorgio Calbrini hatte sich geweigert zu helfen. Das Kind interessierte ihn nicht. Außerdem hatte seine Tochter wieder geheiratet – diesmal den Mann seiner Wahl –, und er hoffte, dass sie ihm bald einen Enkel von annehmbarer Abstammung schenken würde.
Doch da hatte er sich verrechnet. Als Gabriel zehn Jahre alt war, kamen seine Mutter und ihr zweiter Mann bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. So musste Giorgio Calbrini sich mit seinem einzigen Enkel zufriedengeben: Gabriel.
Seine Kindheit war streng und bar jeglicher Liebe gewesen. Der Großvater konnte ihm keine Gefühle entgegenbringen, sich mit der niederen Herkunft des verhassten Vaters des Jungen nicht abfinden. Doch im Haus seines Großvaters bekam er immerhin anständig zu essen. Außerdem wurde er auf die besten Schulen geschickt, wo er alles lernen sollte, um eines Tages die Leitung der Firma Calbrini übernehmen zu können. Nicht, dass sein Großvater große Hoffnungen in ihn gesetzt hätte, wie er Gabriel wiederholt verbittert vorgehalten hatte. „Ich muss es tun“, hatte er immer wieder betont. „Mir bleibt keine andere Wahl. Schließlich bist du mein einziger Enkel.“
Doch Gabriel war entschlossen gewesen, sich zu beweisen, allerdings nicht, um die Liebe seines Großvaters zu erringen. An Liebe glaubte er nicht. Nein, er hatte allen zeigen wollen, dass er tüchtiger und stärker war als sein Großvater. Und das hatte er erreicht. Anfangs hatte
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