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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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kam mir ziemlich schäbig vor, weil ich sie seit jenem schrecklichen Abend kein einziges Mal zurückgerufen hatte. »Und was die Sachen betrifft, die Sie mir geliehen haben ...«
    »Behalten Sie sie einfach!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe sowieso zu viel von dem Zeug. Sagen Sie, sind Sie dieses Wochenende in der Stadt? Ich gebe nämlich ein Fest, und es kommen ein paar Leute, die Sie unbedingt kennenlernen sollten ... Leute, die mehr über Ihre Tolomei-Vorfahren wissen als ich. Das Fest findet morgen Abend statt, aber ich würde mich freuen, wenn Sie das ganze Wochenende bleiben.« Sie lächelte wie eine Märchenfee, die gerade im Begriff war, eine goldene Kutsche herbeizuzaubern. »Val d'Orcia wird Ihnen gefallen, da bin ich ganz sicher! Alessandro soll Sie einfach mitnehmen, er kommt nämlich auch.«
    »Ähm ...« stammelte ich. Wie konnte ich da nein sagen? Allerdings musste ich damit rechnen, von Janice erwürgt zu werden, wenn ich die Einladung annahm. »Ich würde wirklich gerne kommen, aber ...«
    »Wunderbar!« Eva Maria beugte sich hinüber und öffnete die Wagentür, um mich aussteigen zu lassen. »Dann bis morgen. Bringen Sie nichts mit, nur sich selbst!«
     

V.V
    Wie oft sind Menschen, schon des Todes Kaub,
    Noch fröhlich worden! Ihre Wärter nennens
    Den letzten Lebensblitz. Wie mag nun dies
    Ein Blitz mir heißen?
     
     
     
    Siena, im Jahre 1340
     
    Locca di Tentennano war ein furchteinflößendes Bauwerk. Wie ein Aasgeier thronte es auf einem Hügel im Orcia-Tal, perfekt platziert, um jede Beute weit und breit zu erspähen. Seine massiven Mauern waren dazu erbaut, unzähligen feindlichen Belagerungen und Angriffen zu trotzen, und in Anbetracht von Manieren und Moral ihrer Besitzer waren jene Mauern keinen Zentimeter zu dick.
    Während der ganzen Reise dorthin sann Giulietta darüber nach, weshalb Salimbeni wohl die Güte besessen hatte, sie aufs Land zu schicken. Als er sich ein paar Tage zuvor auf dem Hof vor dem Palazzo Salimbeni von ihr verabschiedet hatte, war ihr sein Blick beinahe freundlich erschienen, und sie hatte sich gefragt, ob er mittlerweile - dank des Fluches, der auf seiner Männlichkeit lag - Reue wegen seiner Untaten empfand und nun versuchte, durch ihre Entsendung aufs Land Wiedergutmachung für all den ihr zugefügten Schmerz zu leisten.
    In derart hoffnungsvoller Gemütsverfassung hatte sie beobachtet, wie er sich von seinem Sohn Nino verabschiedete, der sie ins Orcia-Tal begleiten sollte - und dabei den Eindruck gehabt, in Salimbenis Augen echte Zuneigung zu entdecken, während er Nino letzte Anweisungen für die Reise gab. »Möge Gott dich segnen«, hatte er gesagt, während Nino das Pferd bestieg, das er auch beim Palio geritten hatte, »sowohl auf deiner Reise als auch darüber hinaus.«
    Der junge Mann hatte ihm keine Antwort gegeben, sondern getan, als wäre sein Vater gar nicht vorhanden. Obwohl Salimbeni ein so böser Mensch war, hatte Giulietta sich - für einen kurzen Moment - peinlich berührt gefühlt und fast ein wenig Mitleid mit ihm empfunden.
    Als sie dann aber zum ersten Mal aus ihrem Fenster auf Rocca di Tentennano blickte, durchschaute sie allmählich, welche Absicht er in Wirklichkeit verfolgte, und begriff, dass ihre Entsendung aufs Land keine großzügige Geste, sondern vielmehr eine neue, raffinierte Art der Strafe darstellte.
    Der Ort war eine Festung. Niemand, der nicht dorthin gehörte, konnte hineingelangen, und ebenso wenig würde es je ein Mensch schaffen, ohne Erlaubnis von dort zu entkommen. Nun endlich verstand sie, was die Leute gemeint hatten, wenn sie mit ernster Miene davon sprachen, dass Salimbenis frühere Frauen nach Rocca di Tentennano geschickt worden seien. Die einzige Möglichkeit, von dort zu entkommen, war der Tod.
    Zu Giuliettas Überraschung eilte sofort ein Dienstmädchen herbei, um in ihrem Zimmer ein Kaminfeuer zu entfachen und ihr aus ihrer Reisegarderobe zu helfen. Es war ein kalter Tag Anfang Dezember, und während der vielen Stunden ihrer letzten Reiseetappe hatte sie ihre bleichen Fingerspitzen kaum noch gespürt. Nun drehte sie sich in einem Wollkleid und trockenen Hausschuhen vor dem offenen Feuer und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal so behaglich gefühlt hatte.
    Als sie den Kopf hob, sah sie Nino in der Tür stehen. Der Blick, mit dem er sie betrachtete, erschien ihr fast freundlich. Zu schade, dachte sie, dass er genau so ein Schurke war wie sein Vater, denn

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