Julia
eigentlich war er ein gutaussehender, kräftiger und fähiger junger Mann, der in Anbetracht der Verbrechen, welche sein Gewissen - zweifelsohne - schwer belasten mussten, erstaunlich oft lächelte.
»Dürfte ich Euch bitten«, sagte er in so höflichem Ton, als würde er sie auf der Tanzfläche ansprechen, »heute Abend nach unten zu kommen und mir beim Essen Gesellschaft zu leisten?
Wenn ich richtig informiert bin, habt Ihr während der vergangenen drei Wochen stets alleine gespeist. Ich muss mich bei Euch für die schlechten Manieren meiner Familie entschuldigen.« Angesichts ihrer Überraschung setzte er sein bezauberndstes Lächeln auf. »Habt keine Angst. Ich versichere Euch, dass wir ganz allein sein werden.«
So war es in der Tat. Giulietta und Nino saßen an den beiden Enden einer Tafel, die leicht zwanzig Leuten Platz geboten hätte, und nahmen den Großteil ihrer Mahlzeit schweigend zu sich. Nur hin und wieder sahen sie sich über die Kandelaber hinweg an. Jedes Mal, wenn Nino Giuliettas Blick spürte, lächelte er, bis sie schließlich den Mut aufbrachte, laut auszusprechen, was ihr im Kopf herumging. »Habt Ihr beim Palio meinen Cousin Tebaldo getötet?«
Das Lächeln verschwand aus Ninos Gesicht. »Natürlich nicht. Wie könnt Ihr so etwas nur denken?«
»Wer war es dann?«
Er musterte sie neugierig, wirkte jedoch durch keine ihrer beiden Fragen besonders erschüttert. »Das wisst Ihr doch. Alle wissen es.«
»Und wissen auch alle ...« - für einen Moment versagte Giulietta die Stimme -, »was Euer Vater Romeo angetan hat?«
Statt einer Antwort erhob sich Nino von seinem Platz und ging zu ihrem Ende der Tafel hinüber, wo er neben ihr niederkniete und ihre Hand ergriff, als wäre er ein Ritter und sie eine Maid in Not. »Wie kann ich das Übel, das mein Vater angerichtet hat, je wiedergutmachen?« Er presste ihre Hand an seine Wange. »Wie kann ich jemals jenen Mond auslöschen, der mit dem Licht seines Wahnsinns auf meine Sippschaft scheint? Bitte sagt mir, liebste Dame, wie ich Euch erfreuen kann?«
Nachdem Giulietta eine ganze Weile sein Gesicht betrachtet hatte, antwortete sie schlicht: »Indem Ihr mich gehen lasst.«
Verwirrt starrte er sie an. Offenbar wusste er nicht recht, was sie meinte.
»Ich bin nicht die Gattin Eures Vaters«, fuhr sie fort. »Es besteht keine Notwendigkeit, mich hier festzuhalten. Lasst mich einfach gehen, dann werde ich Euch nie wieder Ungemach bereiten.«
»Ich bedaure«, antwortete Nino, der noch immer ihre Hand hielt und diese nun an seine Lippen drückte, »aber das kann ich nicht.«
»Ich verstehe.« Giulietta entzog ihm ihre Hand. »In diesem Fall lasst mich einfach auf mein Zimmer zurückkehren. Damit würdet Ihr mich sehr erfreuen.«
»Das werde ich.« Nino erhob sich. »Doch vorher müsst Ihr noch ein Glas Wein trinken.« Mit diesen Worten schenkte er ihr nach, obwohl sie ihr Glas noch kaum angerührt hatte. »Gegessen habt Ihr auch nicht viel. Ihr müsst doch Hunger haben!« Als sie ihm keine Antwort gab, lächelte er. »Das Leben hier kann sehr angenehm sein, müsst Ihr wissen. Frische Luft, gutes Essen, wundervolles Brot - nicht die Steine, die man uns zu Hause serviert - und ... erlesene Gesellschaft.« Er breitete die Arme aus. »Es steht alles zu Eurer Verfügung. Ihr braucht nur zuzugreifen.«
Erst als er ihr, immer noch lächelnd, das Glas hinhielt, begriff Giulietta langsam, wie seine Worte gemeint waren. »Habt Ihr denn keine Angst«, antwortete sie leichthin, während sie ihr Glas entgegennahm, »was Euer Vater dazu sagen würde?«
Nino lachte. »Ich glaube, wir könnten beide mal eine Nacht gebrauchen, in der wir nicht an meinen Vater denken.« Gegen den Tisch gelehnt, wartete er darauf, dass sie trinken würde. »Bestimmt habt Ihr schon gemerkt, dass ich ganz anders bin als er.«
Giulietta stellte ihr Glas ab und erhob sich. »Ich danke Euch«, sagte sie, »für dieses Essen und Eure Freundlichkeit. Doch nun ist es für mich an der Zeit mich zurückzuziehen. Ich wünsche Euch eine gute Nacht ...«
Eine Hand legte sich um ihr Handgelenk und hielt sie zurück.
»Ich bin durchaus kein gefühlloser Mensch«, erklärte Nino, endlich ernst. »Ich weiß, Ihr musstet vieles erdulden, und ich wünschte, dem wäre nicht so. Dennoch hat das Schicksal bestimmt, dass wir nun hier zusammen sind ...«
»Das Schicksal?« Vergeblich versuchte Giulietta, sich aus seinem Griff zu befreien. »Ihr meint wohl, Euer Vater?«
Erst jetzt gab Nino
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