Julian und das Ende der Nacht
schlug ihm bis zum Hals, als er eintrat. Aufmerksam musterte John Tamino, der verloren dem Spiel der Flammen in seinem Kamin zusah. John wusste von Taminos Leid, das ihn seit zweihundert Jahren gefangen hielt, doch nie zuvor war es so laut hörbar gewesen. In John blitzte ein Gedanke auf, den er sofort wieder verwarf und doch überfiel er John erneut.
„Was willst du?“ Tamino klang erschöpft.
„Was passiert ist, tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor“, entschuldigte sich John leise. Taminos Blick durchdrang ihn und erschütterte ihn bis ins Mark. „Julian hat mich gebeten, auf die Erde zu kommen“, äußerte John vorsichtig, „kann ich dich allein lassen?“ „Geh' und nimm Emely mit dir!“ Taminos Stimme duldete keinen Widerspruch. Schweigend zog sich John zurück.
53
Unzufrieden mit ihrer ärmlichen Behausung stand Safra am offenen Fenster und starrte in den aufgehenden Morgen.
„Wir haben das Buch des Bösen. Wir sollten in die höchste Ebene zurückkehren und blutige Rache an denen nehmen, die uns dreitausend gemeinsame Jahre raubten." Richard gesellte sich hinter seine Frau und schloss fest die Arme um sie.
„Hab' Geduld. Alles zu seiner Zeit“, flüsterte er. Mit einem tiefen Atemzug der Erleichterung endlich wieder zu atmen, lehnte Safra ihren Kopf an Richards Schulter und betrachtete die schwarzen Wolken, die am Himmel aufzogen.
„Meine Auferstehung hat Konsequenzen für diese Erde. Es wird Stürme geben. Erdbeben und Städte werden in wilden Fluten untergehen.“ Safra lächelte und schloss das Fenster. Sie genoss das Bild, das sich ihr bot. Die Bäume wiegten sich, als wollten sie sich vor dem Bösen verneigen. Hart schlug der Regen gegen die verschmutzten Fenster, wie Tränen zogen die Regentropfen saubere Bahnen auf den Scheiben, bevor sie in das morsche Holz der Fensterrahmen eindrangen. Lilith stöhnte genervt auf.
„Dieses Buch hat dreitausend Seiten, es kann Monate dauern, bis ich den Zauber finde, der die Arme des Bösen aus der Unterwelt befreit“, beschwerte sie sich. Richard und Safra wandten sich Lilith zu, die auf einer Decke auf dem Boden saß und das Buch des Bösen durchblätterte.
„Kind, wie du weißt, braucht es Kairons Blutlinie, um das Tor zur Unterwelt zu öffnen. Wenn du nicht bereit bist, auszubluten, haben wir keine Wahl. Sei brav und such' weiter“, Richard klang ironisch. „Hast du Kassandra vergessen?“, erwiderte Lilith schnippisch.
„Kassandra!“, zischte Safra, ihre Augen funkelten Richard gefährlich an. „Du hast eine Sterbliche verwandelt!“
„Sie war ein Mittel zum Zweck, nicht mehr“, erklärte Richard kurz, „doch es stimmt, Kassandra besitzt mein Blut und entspricht somit Kairons Blutlinie.“
„Und wo finden wir deine sterbliche Hure?“, fauchte Safra eifersüchtig.
„Das weiß ich noch nicht. Doch du darfst sie töten, wenn wir sie gefunden haben“, versprach Richard versöhnlich.
54
„Ihr zwei werdet auf keinen Fall vor die Tür gehen“, streng musterte John seine Frau „ich bin so schnell wie möglich zurück.“ John schenkte Marie einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und teleportierte sich aus dem Raum. Erschöpft ließ sich Emely auf Maries himmelblaues Sofa fallen.
„Mir dröhnen immer noch die Ohren von Taminos Schrei“, seufzte sie. Marie setzte sich zu ihrer Schwester.
„Tut mir leid, ich dachte Tamino würde anders auf dich reagieren.“ Emely blickte Marie skeptisch an. „Wie hast du gedacht, dass er auf mich reagieren würde?“
„Ich habe dich schon als Königin der Unterwelt gesehen“, gestand Marie kleinlaut. Emely wurde kreidebleich.
„Du hast nicht wirklich geplant, mich hier unten für immer und ewig zu begraben. Ich brauche Sonne“, fauchte Emely.
„Ich sehne mich auch nach dem Licht, doch John weigert sich, Tamino zu verlassen. Er empfindet wie ein Vater für ihn.“
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“, fragend blickte Emely Marie an.
„Was?“ „Tamino ist ein Sohn der Nacht. Der Sohn seines Bruders und einer Sterblichen. John ist ein Gott, er hat Tamino mit seinem Blut verwandelt. John steht weit über Tamino und doch nennt er ihn Herrscher. Erkläre mir das.“
„John wollte Tamino zu einem warmherzigen und gerechten Mann erziehen. Die Verantwortung eines Herrschers hat Taminos Werte geprägt. In unserem Teil der Unterwelt herrscht Frieden.“
„Wie groß ist die Unterwelt eigentlich?“, fragte Emely sichtlich ermüdet.
„Die Unterwelt ist dreimal so groß wie die
Weitere Kostenlose Bücher