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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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kaltschnäuzig verhielt, gefiel ihr nicht. Aber was sollte sie denn sonst denken? Er wusste, dass Enrique Marín an Lungenkrebs litt. Er wusste, dass er vielleicht nicht mehr lange zu leben hatte. Was konnte er so Schlimmes getan haben, dass Andrés nicht wenigstens zurückkam, um ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor er starb? »Aber du kommst trotzdem nicht her?«, fragte sie.
    Ein langes Schweigen trat ein. Ruby passierte den neuen Supermarkt und ging in Richtung Windmühle. Die Landschaft war braun und ausgedörrt. Die Berge flimmerten in der Ferne und sahen aus wie mit Dellen überzogen.
    »Warum wollte er, dass du dich mit einer Nonne triffst?«, fragte Andrés.
    »Ich bin mir nicht sicher.« Sie hatte dieses ganze Gerede über Kinder und Eltern ein wenig merkwürdig gefunden. Aber es leuchtete ein, dass das Kloster vielleicht Aufzeichnungen besaß   – obwohl Laura nicht der Mensch war, der sich hätte registrieren lassen. Ruby dachte daran, was sie zu Vivien über Etiketten gesagt hatte, und darüber, warum sie Rubys Geburt nicht angemeldet hatte. Ein freier Geist? Ein Hippie? Wie war ihre Mutter wirklich? Würde sie je die Chance bekommen, es herauszufinden?
    »Hast du ihm gesagt, dass du mich kennst?«, fragte Andrés.
    »Nein.« Dann hätte er wahrscheinlich nicht mit ihr geredet.
    »Und meine Mutter? Wie geht es meiner Mutter?«
    »Warum kommst du nicht und überzeugst dich selbst?«
    Schweigen.
    »Hat mein Vater dir sonst noch etwas erzählt?«, wollte Andrés wissen.
    »Was zum Beispiel?« Sie hatte nicht vor, es ihm leicht zu machen.
    Sie hörte ihn seufzen.
    »Er hat mir nicht erzählt, was zwischen euch beiden vorgefallen ist, falls du das meinst.« Ruby stieß den Atem aus. Sein Geheimnis   – was immer es sein mochte   – war sicher.
    »Das habe ich nicht gemeint«, sagte er. »Ich meinte   …« Er zögerte. »Ach, egal.«
    Ruby gab auf. Der Mann trieb sie in den Wahnsinn. »Und? Wie läuft es mit der Ausstellung?«, fragte sie stattdessen.
    »Ich bin so weit«, sagte er.
    Ruby dachte an all die Skizzen von Laura, die Enrique ihr gezeigt hatte. Sie waren größtenteils am Strand und alle innerhalb kurzer Zeit entstanden, wie er sagte. Ihre Traurigkeit und Verlassenheit waren beinahe mit Händen zu greifen, so lebhaft hatte Enrique ihre Emotionen in seiner Arbeit zum Ausdruck gebracht. 1978 oder 1979 war das gewesen   … Nach dem Tod von Lauras Mutter. Nachdem sie nach England zurückgekehrt war und nachdem sie Vivien ihr Baby gegeben hatte. Hatte sie ihre Entscheidung damals bereut? Hatte sie sich gewünscht, Ruby nie weggegeben zu haben? Es waren so viele Zeichnungen, dass es fast schien, als wäre er von ihr besessen gewesen.
    »Und wenn die Ausstellung vorbei ist   …«, sagte Andrés gerade.
    »Ja?«
    »Dann ist sie vorbei«, sagte er.
    Düster sah Ruby über den campo zu den Bergen und zur Windmühle. Wie hatte sie sich nur auf einen so verstocktenund undurchschaubaren Mann einlassen können? Und als er gesagt hatte, dass es vorbei sei – hatte er da von der Sommerausstellung gesprochen oder von ihrer Beziehung? Ruby wurde klar, dass sie nicht den blassesten Schimmer hatte.

40. Kapitel
    W arum sind Sie hier, mein Kind?«, fragte die alte Nonne Ruby in perfektem Englisch.
    »Ich bin auf der Suche nach meiner Mutter.« Eigentlich war es so einfach.
    Doch die Nonne seufzte, als hätte sie etwas Schlimmes gesagt.
    Wie konnte es schlimm sein, dass sie nach ihrer Mutter suchte?
    Ruby und die alte Nonne saßen in einem kleinen Raum, der sich an die Eingangshalle des Klosters anschloss. Schwester Julia sah uralt aus. Sie trug einen einfachen weißen Habit und ein schweres Kruzifix um den Hals. Obwohl ihr Gesicht runzlig war wie eine vertrocknete Dattel, strahlten ihre milchigen, blassen Augen eine verblüffende Weisheit aus. Offenbar sprach sie auch sehr gut Englisch. Vielleicht hatte sie als junges Mädchen die Sprache ja studiert.
    »Ihre Mutter?« Schwester Julia schlug eine Hand vor den Mund und riss beinahe ungläubig die Augen auf. »Ach du meine Güte«, sagte sie. »Ach du meine Güte.« Dann verstummte sie kurz und starrte ins Leere, bevor sie sich wieder fasste.
    »Schwester?«
    »Sollen wir ein Stück gehen?« Sie stand auf und sah sich um, als wolle sie nicht, dass jemand ihr Gespräch mitanhörte.
    Das war natürlich albern. Aber   …
    »Es ist ein wunderschöner Tag.«
    »Ja, natürlich, Schwester. Wir können spazieren gehen.« Anscheinend wollte jeder hier mit ihr

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