Julie oder Die neue Heloise
Rigaudons, Chaconnes in einer Tragödie zu schaffen? Noch mehr, er würde nicht weniger am unrechten Orte sein, wenn er auch etwas nachahmte, weil von allen Einheiten keine unerläßlicher ist, als die der Sprache, und eine Oper, in der die Handlung halb in Gesang, halb in Tanz vor sich ginge, würde noch lächerlicher sein als eine, in der zur Hälfte italienisch und zur Hälfte französisch gesprochen würde.
Nicht zufrieden, den Tanz als Bestandtheil des lyrischen Dramas einzuführen, haben sie sich manchmal sogar gequält, ihn zur Hauptsache zu machen; sie haben Opern, Ballete
[Vergl. „Bekenntnisse“ Th. 4. S. 28 Anm. und was daselbst oben im Texte Rousseau über den Entwurf zu seinem „heroischen Ballet“ erzählt. D. Ueb.]
genannt, welche ihrem Titel so schlecht entsprechen, daß der Tanz darin nicht weniger übel angebracht ist als in allen übrigen. Die meisten dieser Ballets enthalten eben so viele verschiedenartige Sujets als Akte, und diese Sujets sind mit einander durch gewisse metaphysische Beziehungen verbunden, von denen der Zuschauer sicherlich nichts merken würde, wenn nicht der Verfasser Bedacht nähme, ihn im Prologe darüber aufzuklären. Die Jahreszeiten, die Lebensalter, die Sinne, die Elemente — ich frage, in welcher Beziehung stehen alle diese Titel zum Tanzen und was können sie der Phantasie in dieser Hinsicht für Stoff zuführen? Manche sind auch blos allegorisch, wie das Carneval und die Narrheit; und diese sind die unerträglichsten von allen, weil sie, bei viel Feinheit, Witz und Geist, weder Gefühle, noch Gemälde, noch Situationen, noch Wärme, noch Interesse darbieten, noch irgend etwas, was der Musik einen Anhalt geben, dem Herzen schmeicheln und die Täuschung nähren kann. Indiesen sogenannten Ballets geht die Handlung immer im Gesange vor sich, der Tanz unterbricht die Handlung stets oder ist nur zufällig da und ahmt nichts nach. Das Einzige ist noch, daß bei diesen Ballets, die noch uninteressanter sind als die tragischen Opern, die Unterbrechung weniger auffällt: wären sie weniger frostig, so würde man daran größeren Anstoß nehmen; nun aber bedeckt der eine Fehler den anderen, und die Kunst der Verfasser besteht darin, daß sie, um zu verhindern, daß der Tanz langweile, dafür sorgen, daß das Stück langweilig sei.
Dies führt mich ungesucht auf Betrachtungen über die wahre Beschaffenheit des lyrischen Drama, die aber von zu großem Umfange für diesen Brief sein und mich von meinem Gegenstande zu sehr ablenken würden; ich habe nun eine kleine Abhandlung darüber niedergeschrieben, die ich Ihnen beilege und über die Sie mit Regianino plaudern können. Ueber die französische Oper hätte ich noch zu sagen, daß der größte Fehler, den ich an ihr zu bemerken glaube, eine falsche Liebe zum Prächtigen ist, durch die man sich verleiten läßt, das Wunderbare zur Darstellung zu bringen, ohne zu bedenken, daß dieses, welches nur in der Phantasie ergriffen werden kann, in einem epischen Gedichte wohl an seiner Stelle, auf dem Theater aber lächerlich ist. Ich hätte es schwerlich für möglich gehalten, wenn ich es nicht gesehen hätte, daß Decorateure ungeschickt genug sind, den Sonnenwagen nachahmen zu wollen, und Zuschauer kindisch genug, diese Nachahmung anzugaffen. La Bruyère begriff nicht, wie ein so prachtvolles Schauspiel als die Oper ihn für sein theures Geld so langweilen könnte. Ich begreife es vollkommen, ich, der ich kein La Bruyère bin, und ich behaupte, daß für jeden Menschen, der nicht ganz entblößt von Geschmack in den schönen Künsten ist, die französische Musik, der Tanz und das Wunderbare zusammengenommen, die Pariser Oper nothwendig zu dem langweiligsten Schauspiele machen müssen, das nur denkbar ist. Allem nach würde vielleicht für die Franzosen ein vollkommeneres gar nicht einmal taugen, wenigstens was Ausführung betrifft; nicht, daß sie das Gute würdigen zu lernen außer Stande wären, aber das Schlechte amüsirt sie nun einmal mehr als das Gute. Sie mögen lieber bespötteln als Beifall geben; das Vergnügen der Kritik entschädigt sie für die Langweiligkeit des Schauspiels, und es ist ihnen angenehmer, sich darüber lustig zu machen, wenn sie hinaus sind, als sich drinnen zu gefallen.
Vierundzwanzigster Brief.
Von Julie.
Ja, ja, ich sehe es wohl, die glückliche Julie ist dir stets theuer. Noch ganz das Feuer, das ehedem aus deinen Augen strahlte, läßt sich in deinem letzten Briefe spüren; ich finde in ihm
Weitere Kostenlose Bücher