Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
Belegstellen und Thatsachen verlangten, könnte ich Ihnen Orakel, Antworten weiser Männer anführen, und Tugendhandlungen, deren Lohn der Tod war. Lassen wir alles Das bei Seite; ich spreche ja zu Ihnen, und ich frage Sie, was ist hienieden das Hauptgeschäft des Weisen, wenn nicht, sich so zu sagen, in die Tiefe seiner Seele zu versenken, und zu trachten, daß er im Leben demLeben gestorben sei. Ist nicht das einzige Mittel, welches die Vernunft gefunden hat, um uns den Uebeln zu entrücken, mit denen die Menschheit behaftet ist, daß wir uns von allem Irdischen, von Allem, was sterblich in uns ist, lossagen, uns tief in uns sammeln und uns zu erhabenen Betrachtungen aufschwingen? Und wenn unsere Leidenschaften und Irrthümer unser Unglück sind, wie heiß muß unser Verlangen nach einem Zustande sein, der uns von allen beiden erlöst! Was thut der Sinnliche, der seine Schmerzen so thöricht durch seine Lüste vervielfältigt? Er vernichtet, so zu sagen, seine Existenz. indem er sie im Irdischen ausbreitet, er erschwert sich die Last seiner Ketten durch die Menge der Punkte, an denen er hängen bleibt, er hat keinen Genuß, der ihm nicht tausend bittere Entbehrungen bereitete; je mehr er empfindet und leidet, desto tiefer läßt er sich in das Leben ein, und desto unglücklicher ist er.
    Aber möge es doch, wenn man will, im Allgemeinen ein Gut für den Menschen sein, trübselig auf der Erde zu kriechen, ich will es zugeben: ich behaupte nicht, daß das ganze Menschengeschlecht sich einhellig opfern und aus der Welt ein weites Grab machen müsse. Es giebt aber, es giebt Unglückliche, die zu auserlesen sind, um der gemeinen Heerstraße zu folgen, und denen ihre Verzweiflung und ihre bittern Schmerzen der Paß sind, den ihnen die Natur ausstellt; von diesen wäre es ebenso unsinnig, zu glauben, daß ihr Leben ein Gut sei, als von dem Sophisten Possidonius zu leugnen, daß die Gicht, die ihn plagte, ein Uebel sei. Solange es gut für uns ist zu leben, wünschen wir es auch sehr, und nur das Gefühl, daß unser Leiden auf's Höchste gestiegen, kann diese Lust in uns besiegen, denn wir alle haben von Natur eine große Scheu vor dem Tode, und diese Scheu macht, daß wir das Elend unseres Daseins nicht ansehen. Lange erträgt man ein jammervolles, schmerzliches Dasein, bevor man sich entschließt, es aufzugeben; wenn aber einmal der Lebensüberdruß über die Todesfurcht das Uebergewicht bekommen hat, so ist dann augenscheinlich das Leben ein großes Uebel und man kann sich nicht schnell genug davon befreien. Also, wiewohl man nicht mit Genauigkeit den Punkt angeben kann, bei welchem es aufhört, ein Gut zu sein, weiß man wenigstens mit Gewißheit, daß es schon lange ein Uebel ist, bevor es uns so erscheint, und bei jedem Menschen, der bei Sinnen ist, geht das Recht, darauf zu verzichten, der Versuchung dazu weit voran.
    Noch mehr: nachdem sie geleugnet haben, daß das Leben ein Uebel sein könne, um uns das Recht zu rauben, uns davon zu befreien, sagen sie dann wieder, daß es ein Uebel sei, um uns einen Vorwurf daraus zu machen, daß wir es nicht ertragen, Sie behaupten, es sei eine Feigheit, wenn man sich seinen Schmerzen und Leiden entziehe, und immer nur Schwächlinge brächten sich um's Leben. O Rom, Besiegerin der Welt, was für ein Haufe von Schwächlingen hat dir die Herrschaft über sie verschafft! Mögen Arria, Epponina, Lucretia so zu nennen sein: sie waren Frauen. Aber Brutus, aber Cassius, und du, der du mit den Göttern die Ehrfurcht der erstaunten Erde theiltest, großer, göttlicher Cato, du, dessen Bild die Römer mit heiligem Eifer beseelte und die Tyrannen zittern machte, deine hochherzigen Bewunderer dachten nicht, daß eines Tages in dem staubigen Winkel einer Schule schlechte Rhetoren den Beweis liefern würden, daß du nichts warst als ein Feigling, weil du nicht wolltest, daß dem vom Glück gekrönten Verbrechen die Tugend in Ketten Huldigungen darbringe. O Kraft und Größe der modernen Autoren! wie unerschrocken sie sind mit der Feder in der Hand! Aber sage mir doch, kühner und tapferer Held, der du dich muthvoll aus dem Schlachtgetümmel rettest, um noch länger die Pein des Lebens zu ertragen, warum, wenn auf die beredte Hand ein Köhlchen fällt, ziehst du sie so schnell zurück? Wie? Du bist so feig, daß du nicht wagst, die Hitze des Feuers auszuhaltend. Nichts, antwortest du, verpflichtet mich, die Kohle zu ertragen! Und mich, was verpflichtet mich, das Leben zu ertragen? Ist die

Weitere Kostenlose Bücher