Julie oder Die neue Heloise
Erzeugung eines Menschen der Vorsehung saurer geworden als die Erzeugung eines Strohhalmes? Ist nicht Eines wie das Andere gleichermaßen ihr Werk?
Ohne Zweifel ist es ein Muth, Leiden, die man nicht vermeiden kann, standhaft zu ertragen; aber es wäre nur Verrücktheit, solche freiwillig zu leiden, denen man sich entziehen kann, ohne übel zu thun, und oft ist es ein sehr großes Uebel, Uebel ohne Noth zu dulden. Wer sich nicht von einem schmerzhaften Leben durch einen schnellen Tod zu befreien weiß, gleicht Dem, der lieber eine Wunde giftig werden lassen, als sie dem heilsamen Eisen des Wundarztes anvertrauen will. Komm, verehrungswürdiger Parisot
[Wundarzt aus Lyon, ein Ehrenmann, ein guter Bürger, ein zärtlicher, edler Freund, vernachlässigt, vergessen, aber wahrlich nicht von Einem, den er mit seinen Wohlthaten überhäuft hatte. (Vergl. „Bekenntnisse“ Th. 4. S.7.]
, nimm mir dieses Bein ab, das mir denTod zuziehen würde; ich werde zusehen, ohne mit den Augen zu zwinkert, und mich feig schelten lassen von dem muthigen Helden, der das seinige lieber verfaulen läßt, weil er die Operation nicht zu bestehen wagt.
Es giebt allerdings Pflichten gegen Andere, welche nicht jedem Menschen erlauben, über sich zu verfügen; aber wie viele giebt es dafür, die es ihm gebieten! Möge sich ein Beamter, an dessen Leben das Wohl des Staates hängt, möge sich ein Familienvater, der sich seinen Kindern erhalten muß, möge sich ein zahlungsunfähiger Schuldner, der seine Gläubiger ruiniren würde, der Pflicht opfern um jeden Preis; mögen tausend andere bürgerliche und häusliche Verhältnisse einen braven Mann, der unglücklich ist, zwingen, das Unglück, daß er leben muß, zu ertragen, damit er dem größeren entgehe, ungerecht zu sein: ist es deswegen erlaubt in ganz anderen Fällen aus Kosten einer Schaar von Leidenden ein Leben festzuhalten, das nur noch Dem nützt, der nickt den Muth hat zu sterben? Tödte mich, mein Kind, sagt der alte Wilde zu seinem Sohne, der ihn trägt und unter der Last wankt; die Feinde sind da. Geh und kämpfe an der Seite deiner Brüder; geh, rette deine Kinder, und gieb deinen Vater nicht der Gefahr Preis, lebend in die Hände Derer zu fallen, deren Eltern er fraß. Wenn Hunger, Krankheit, Elend, schlimmere Hausfeinde als alle Wilden, einem verstümmelten Unglücklichen erlauben, in seinem Bette das Brod einer Familie zu verzehren, die kaum erschwingen kann, was sie für sich braucht, warum sollte nicht Der, an dem nichts hängt, den der Himmel verdammt, allein auf der Erde zu leben, dessen unseliges Dasein nichts Gutes schaffen kann, warum sollte der nicht wenigstens das Recht haben, einen Aufenthalt zu verlassen, wo seine Klagen überlästig und seine Leiden nutzlos sind?
Erwägen Sie diese Bedenken, Milord, nehmen Sie alle diese Gründe zusammen, und Sie werden finden, daß sie auf das einfachste der Naturrechte zurückgehen, welches noch kein vernünftiger Mensch je in Frage gestellt hat. In der That, warum sollte es erlaubt sein, sich von der Gicht zu curiren und nicht vom Leben? Kommt uns nicht beides von der nämlichen Hand? Wenn das Sterben wehe thut, was will das sagen? Ist es ein Vergnügen, Arzeneien zu gebrauchen? Wie viele Leute ziehen nicht den Tod einer Cur vor! Ein Beweis, daß die Natur dem Einen wie dem Anderen widerstrebt. Also zeige man mir doch, woher es mehr erlaubt ist, sich von einem vorübergehenden Uebel mit Hülfe von Heilmitteln zu befreien, als von einem unheilbaren Uebelmit Hülfe des Todes, und woher man weniger strafbar ist, wenn man China gegen das Fieber, als wenn man Opium gegen den Stein gebraucht. Wenn wir den Zweck ansehen, so ist er in beiden Fällen, uns vom Uebelbefinden herzustellen; wenn wir das Mittel ansehen, so ist es in beiden Fällen auf gleiche Weise ein natürliches; wenn wir den Willen des Herrn ansehen, giebt es ein Uebel zu bekämpfen, das nicht er selbst uns zugeschickt hätte? Giebt es einen Schmerz zu lindern, der uns nicht von seiner Hand käme? Wo ist die Grenze, bei welcher seine Macht endet, und der Widerstand erlaubt zu sein anfängt? Ist es uns also nicht erlaubt, den Zustand irgend eines Dinges zu ändern, weil doch Alles so ist, wie er es hat haben wollen? Darf man nichts auf der Welt thun, aus Furcht seine Verordnungen umzustoßen? Oder können wir auch nur, wie wir uns anstellen mögen, je die kleinste derselben umstoßen? Nein, Milord, der Beruf des Menschen ist höher und edler; Gott hat ihm nicht den Geist
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