Julie oder Die neue Heloise
zu braven Menschen für jeden Stand, in den sie treten mögen, bildete.
Im Winter sind die Vergnügungen, wie die Arbeiten anderer Art. Sonntags versammeln sich alle Leute aus dem Hause, und auch die Nachbarn mit ihnen, Männer und Frauen ohne Unterschied, nach dem Gottesdienste in einem Saale des Erdgeschosses, wo sie Feuer, Wein, Obst, Backwerk und eine Geige finden, nach der sie tanzen. Frau von Wolmar verfehlt nie, sich dabei wenigstens einige Augenblicke zu zeigen, um durch ihre Gegenwart Ordnung und Anstand aufrecht zu erhalten, und nicht selten tanzt sie selbst, wenn auch mit ihren eigenen Leuten. Diese Gewohnheit schien mir, als ich davon hörte, zuerst mit der Strenge der protestantischen Sitten nicht recht vereinbar. Ich sagte es Julien, und was sie mir entgegnete, war etwa Folgendes:
Die reine Moral ist so reich an ernsten Pflichten, daß, wenn man sie noch mit gleichgültigen Formen überlädt, dies fast immer nur auf Kosten des Wesentlichen geschieht. Es heißt, daß es wirklich bei den meisten Mönchen so sei, daß dieselben, tausend unnützen Regeln unterworfen, von Ehre und Tugend gewöhnlich nichts wissen. Dieser Fehler ist bei uns Protestanten weniger herrschend, aber wir sind doch auch nicht ganz frei davon. Unsere Kirchendiener, die allerdings in Einsicht allen Arten von Priestern ebenso überlegen sind, als unsere Religion in Heiligkeit allen übrigen, haben doch noch manche Grundsätze, die mehr auf Vorurtheil, als auf Vernunft gegründet scheinen. So z. B. daß sie Tanz und gesellige Lustbarkeiten tadeln; als ob Tanzen etwas Schlimmeres wäre, als Singen, als ob jede dieser Ergötzlichkeiten nicht gleichermaßen aus einem natürlichen Triebe herstammte, und als ob es eine Sünde wäre, sich in Gemeinschaft ein unschuldiges und anständiges Vergnügen zu machen. Ich für mein Theil glaube vielmehr, daß in jedem Falle, wenn beide Geschlechter zusammenkommen, eine öffentliche Unterhaltung unschuldiger ausfällt, und zwar eben deswegen, weil ste öffentlich ist, während die löblichste Beschäftigung verdächtig wird, wenn sie unter vier Augen stattfindet. Mann und Frau sind für einander bestimmt; es ist der Zweck der Natur, daß sie ehelich vereinigt seien. Jede falsche Religion streitet wider die Natur; die unsrige allein, die sich ihr anschließt und.sie läutert, giebt sich dadurch als eine göttliche und dem Wesen des Menschen entsprechende Anstalt zu erkennen
[Rousseau verkennt hier wie überall das Wesen des Christenthums, welches die Natur selbst als das Sündhafte betrachtet und von dem Menschen fordert, daß er sich von Ihr losreiße und sein ganzes Trachten auf eine ideale Welt, auf den Himmel, richte. D. U.]
. Sie muß also in Betreff der Ehe zu den Verwickelungen, welche die bürgerliche Ordnung herbeiführt, nicht noch neue Schwierigkeiten hinzufügen, welche das Evangelium nicht vorschreibt, und welche dem Geiste des Christenthums entgegen sind. Man sage mir doch, wo junge, heiratsfähige Personen Gelegenheit finden sollen, Neigung zu einander zu fassen, und sich mit mehr Schicklichkeit und Vorsicht zu sehen, als in einer Versammlung, wo die Augen aller Welt, beständig auf sie gerichtet, sie zwingen, mit der größten Sorgfalt über sich zu wachen. Wie kann Gott beleidigt sein durch eine angenehme und gesunde Leibesübung, welche der Lebhaftigkeit junger Personen zusagt, welche darin besteht, daß sie sich einander mit Anmuth und Zierlichkeit zeigen, und bei welcher, der Zuschauer wegen, eine gemessene Haltung beobachtet wird, aus der Niemand herauszugehen wagt? Kann man sich ein schicklicheres Mittel denken, Niemanden zu hintergehen, wenigstens was das Aeußere betrifft, und sich mit den Vorzügen und Fehlern, die man haben mag, den Personen zu zeigen, denen daran gelegen ist, uns recht zu kennen, ehe sie sich verpflichten, uns zu lieben? Macht es die Pflicht, sich gegenseitig zu lieben, nicht zur Pflicht, daß man sich zu gefallen suche? Und ist es nicht für zwei tugendhafte und christliche Personen, die daran denken, sich mit einander zu verbinden, eine würdige Aufgabe, so ihre Herzen zu der gegenseitigen Liebe, die Gott ihnen auflegt, vorzubereiten?
Was ist die Folge, wenn Alles beständig unter der Zuchtruthe gehalten, wenn die unschuldigste Fröhlichkeit wie ein Verbrechen bestraft wird, wenn die jungen Leute beiderlei Geschlechts sich nie öffentlich versammeln dürfen, und ein Geistlicher, in übelberechneter Strenge, nichts im Namen Gottes zu predigen weiß, als
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