Julie oder Die neue Heloise
Erfüllung gehen. Ich sehe an Juliens Verhalten, daß sie Rathschläge von Ihnen bekommen hat, welche sie nicht unbefolgt lassen konnte, ohne sich selbst Unrecht zu thun. Welches Vergnügen würde es für mich sein, ihr so den Beweis zu geben, daß ich ihren ganzen Werth fühle, wenn sie eine Frau wäre, bei der ein Mann sich aus seinem Vertrauen noch erst ein Verdienst machen könnte. Aber wenn sie über ihr Herz nichts gewonnen hätte, so würde ihre Tugend dennoch die nämliche bleiben; sie würde ihr mehr kosten und deshalb doch nicht weniger den Sieg behalten; während, wenn sie jetzt noch einen Schmerz in sich zu bekämpfen finden sollte, dies nur etwa in einem Augenblicke der Rührung, in Folge eines Gespräches über frühere Zeiten der Fall sein könnte, und solche Augenblicke wird sie nur zu gut herannahen sehen und stets vermeiden. So sehen Sie, daß man mein Betragen hier nicht nach den gewöhnlichen Regeln beurtheilen muß,sondern nach den Absichten, die mich leiten, und nach dem ganz eigenen Charakter der Person, gegen welche ich es einhalte.
Adieu, Cousinchen, bis zu meiner Rückreise. Obgleich ich Julien nicht alle diese Erläuterungen gegeben habe, fordere ich doch nicht, daß Sie ihr ein Geheimniß daraus machen. Ich habe den Grundsatz, daß man zwischen Freunden keine Heimlichkeiten stiften dürfe; ich überlasse daher die Mittheilung des Besprochenen Ihrem Ermessen; machen Sie davon denjenigen Gebrauch, welchen Klugheit und Freundschaft Ihnen anempfehlen: ich weiß, daß Sie Alles nur auf's Beste und Schicklichste machen werden.
Fünfzehnter Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.
Herr von Wolmar ist gestern nach Étange abgegangen, und ich kann kaum begreifen, warum mich seine Abreise so traurig gemacht hat. Ich glaube, die Entfernung seiner Frau würde mich weniger betrübt haben, als es die seinige thut. Ich fühle mich befangener, als selbst bei seiner Anwesenheit; in meinem Herzen ist es düster und still; eine geheime Unruhe läßt es nicht einmal zum Murren kommen; und weniger von Begierden gepeinigt, als von unbestimmter Furcht, empfinde ich die Schrecken des Verbrechens, ohne seine Reizungen zu spüren.
Wissen Sie, Milord, wo meine Seele Ruhe findet und sich dieser unwürdigen Angst entledigt? Bei Frau von Wolmar. Sobald ich ihr nahe, stillt ihr Anblick mein inneres Weh, reinigen ihre Blicke mein Herz. So groß ist die Macht des ihrigen, daß es stets das Gefühl ihrer Unschuld und die Ruhe, die deren Wirkung ist, allen Anderen mitzutheilen scheint. Zum Unglück für mich erlaubt ihr die Regelmäßigkeit ihres Lebens nicht, den ganzen Tag ihren Freunden zu widmen, und in den Augenblicken, welche ich gezwungen bin ohne sie hinzubringen, würde ich weniger leiden, wenn ich entfernter von ihr wäre.
Was die Schwermuth noch vermehrt, von der ich wich niedergedrückt fühle, ist ein Wort, das sie gestern nach der Abreise ihres Mannes fallen ließ. Obgleich sie bis zu diesem Augenblicke ziemlich viel Haltung bewiesen hatte, folgte sie ihm lange mit den Augen und ließ auf ihrem Gesichte eine Wehmuth blicken, die ich zuerst nur der Trennung von diesem glücklichen Gatten beimaß: aber aus ihren Worten erkannte ich, daß diese Wehmuth noch eine andere, mir fremde Ursache hatte, Sie sehen, wie wir leben, sagte sie zu mir, und Sie wissen, ob er mir theuer ist; glauben Sie jedoch nicht, daß das Gefühl, welches mich ihm verbindet, obgleich so zärtlich wie die Liebe und mächtiger als sie, auch die Schwächen von ihr an sich habe. Wenn es uns schwer fällt, die süße Gewohnheit des Beisammenseins unterbrechen zu müssen, so tröstet uns doch bald die sichere Hoffnung seiner Wiederkehr. Ein so dauerhafter Zustand läßt der Furcht vor Wechsel nicht viel Raum, und bei einer Trennung von wenigen Tagen fühlen wir weniger das Unbehagen dieses kurzen Zwischenraumes, als das Vergnügen, sein Ende abzusehen. Die Betrübniß, welche Sie in meinen Mienen lesen, rührt von einem wichtigeren Gegenstande her, und obgleich sie Herrn von Wolmar angeht, ist doch seine Entfernung nicht das, was sie verursacht.
Mein theurer Freund, setzte sie mit tiefbewegtem Tone hinzu, es giebt kein wahres Glück auf Erden. Ich habe den redlichsten und sanftesten der Menschen zum Manne. Eine gegenseitige Neigung gesellt sich zu der Pflicht, welche uns verbunden hält; er hat keinen anderen Wunsch, als meine Wünsche; ich habe Kinder, die ihrer Mutter nur Freude machen und verheißen; es hat nie eine zärtlichere,
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