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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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aber verzeihen Sie mir einen Enthusiasmus, den ich mir nicht mehr zum Vorwurf mache, und den Sie ja doch theilen. Es wird keine zweite Julie in der Welt geben. Die Vorsehung hat über sie gewacht, und nichts, was sie betrifft, ist eine Wirkung des Zufalls. Der Himmel scheint sie der Erde geschenkt zu haben, um ein Beispiel zu geben von der Trefflichkeit, deren eine menschliche Seele fähig ist, und von dem Glücke, das eine solche in der Dunkelheit des Privatlebens genießen kann, ohne Hülfe jener glänzenden Tugenden, welche sie über sich selbst erheben, oder des Ruhmes, den diese nach sich ziehen können. Ihr Fehltritt, wenn es einer war, hat nur dazu gedient, ihre Kraft und ihren Muth zu entwickeln. Ihre Verwandte, ihre Freunde, ihre Leute, lauter gute Menschen, waren dazu geschaffen, sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden. Ihr Vaterland war das einzige, welches dazu geeignet war, ein Wesen wie sie der Welt zu schenken; die Natürlichkeit, in welcher sie sich so erhaben darstellt, mußte in ihrer Umgebung herrschen; sie mußte, um glücklich zu werden, unter glücklichen Menschen aufwachsen. Wenn sie zu ihrem Unglücke inmitten eines unglücklichen Volkes zur Welt gekommen wäre, welches unter dem Joche der Unterdrückung seufzt, und hoffnungslos und erfolglos gegen das Elend kämpft, von welchem es hingerafft wird, so würde jede Klage der Unterdrückten ihrLeben vergiftet, der allgemeine Jammer würde sie erdrückt, und ihr mitleidiges Herz würde, erschöpft von Schmerz und Pein, die Leiden, die sie nicht hätte lindern können. zu ihren Leiden gemacht haben.
    Statt dessen hat nun aber Alles dazu gedient, ihre natürliche Gutmüthigkeit zu beleben und zu fördern. Sie hat kein öffentliches Unglück zu bejammern, sie hat kein grauses Bild von Elend und Verzweiflung vor Augen. Der Bauer in behaglicher Lage
[Es liegt bei Clarens ein Dorf Namens Moutru, dessen Gemeinde allein reich genug ist, um alle Gemeindeglieder zu erhalten, hätten sie auch keinen Zollbreit Landes eigen; auch ist das Bürgerrecht dieses Orts fast eben so schwer zu
erlangen, als das von Bern. Wie schade doch, daß es nicht da irgend einen braven Gesellen von Subdelegirten giebt, um die Herren von Moutru ein bißchen geselliger und ihr Bürgerrecht ein bißchen weniger theuer zu machen!]
bedarf mehr ihres guten Rathes als ihrer Unterstützung. Wenn sich irgend eine Waise findet, die zu jung ist, um sich selbst zu ernähren, irgend eine vergessene Witwe, die im Verborgenen leidet, irgend ein kinderloser Greis, den seine vom Alter geschwächten Arme nicht mehr ernähren können, so hat sie nicht zu fürchten, daß ihre Wohlthaten ihnen nur Schaden thun werden, und ihnen die Last öffentlicher Abgaben aufbürden, damit statt ihrer anerkannte Schurken von denselben befreit bleiben. Sie hat Genuß von dem Guten, welches sie thut, indem sie es gut anschlagen sieht; das Glück, welches sie genießt, vervielfältigt sich und breitet sich ringsum aus. Jedes Haus, das sie betritt, stellt bald ein Bild von dem ihrigen dar, Gemächlichkeit und Wohlsein sind noch das Mindeste, was ihr Einfluß bewirkt; Eintracht und guter Wandel folgen ihren Tritten von Wirthschaft zu Wirthschaft. Wenn sie aus dem Hause geht, begegnen ihren Augen nur angenehme Gegenstände; wenn sie heimkommt, findet sie drinnen noch süßere; überall sieht sie, was ihrem Herzen gefällt, und diese der Eigenliebe so wenig zugängliche Seele lernt sich in ihren Wohlthaten lieben. Nein, Milord, ich wiederhole es, nichts, was Julie berührt, ist ohne Bedeutung für die Tugend. Ihre Reize, ihre Talente, ihre Neigungen, ihre Kämpfe, ihre Fehltritte, ihre Reue, ihr Wohnsitz, ihre Freunde, ihre Familie, ihre Leiden, ihre Freuden und ihr ganzes Loos, Alles macht ihr Leben zu einem einzigen Musterbilde, das wenige Frauen werden nachahmen wollen, von dem sie aber alle wider Willen entzückt sein werden.
    Bei dem, was man hier für das Glück Anderer thut, gefällt mir am meisten, daß man stets die Klugheit dabei walten läßt, und daß nieein Mißbrauch daraus entspringt. Wohlthätig ist nicht Jeder, der sich's einfallen läßt, und Mancher glaubt oft große Dienste zu leisten, der mit einem Bißchen Guten, das in's Auge fällt, großes Uebel, welches er nicht bemerkt, anrichtet. Eine Eigenschaft, die sich bei Frauen vom besten Charakter selten findet, bei Frau von Wolmar aber ausgezeichnet glänzend hervortritt, ist eine vorzügliche Unterscheidungsgabe bei der Vertheilung ihrer

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