Julie oder Die neue Heloise
widersteht, und ehrlich bleibt, glauben Sie, daß dieser, Alles genommen, glücklicher lebt, als er außer dem Bereiche der wilden Leidenschaften in dem friedlichen Dunkel senes ersten Standes gelebt hätte?
Um seinen Anlagen zu folgen, muß man sie erst kennen. Ist es denn so leicht, jedesmal zu ermitteln, wozu ein Mensch Fähigkeiten besitzt? Und wenn es in dem Alter, in welches die Entscheidung fällt, so viel Schwierigkeiten macht, die Anlagen der Kinder, die man aufs Beste beobachtet hat, richtig zu erkennen, wie soll wohl ein Bauerknabe über die seinigen zur Gewißheit kommen? Nichts ist unsicherer als die Zeichen von Neigung, welche man in der Jugend blicken läßt,bei denen der Nachahmungstrieb oft mehr betheiligt ist, als das wirkliche Talent; sie werden weit öfter von allerlei Zufällen herbeigeführt sein, als von einem entschiedenen Hange, und der Hang selbst ist nicht immer ein Beweis von glücklicher Anlage. Das wahre Talent, das wahre Ge'nie hat eine gewisse Unschuld und Unbefangenheit, und ist weniger unruhig, weniger zappelnd, weniger beflissen sich zu zeigen, als ein scheinbares und falsches Talent, das man für ein wahres hält, während nichts da ist, als eine eitle Begierde zu glänzen, ohne daß dazu die Mittel vorhanden wären; Mancher hört eine Trommel und will General werden, ein Anderer sieht bauen und hält sich schon für einen Architekten. Justin, mein Gärtner, faßte Neigung zum Zeichnen, weil er mich hatte zeichnen sehen: ich schickte ihn nach Lausanne, um es zu lernen; er dünkte sieh schon Maler und ist in der That nichts weiter als ein Gärtner. Die Gelegenheit, der Wunsch vorwärts zu kommen, sind bei der Wahl des Standes entscheidend. Es ist nicht genug, daß man sein Genie fühle, man muß auch den Willen haben, sich ihm hinzugeben. Wird ein Prinz Kutscher werden wollen, weil er geschickt zu fahren versteht? Wird ein Herzog Koch werden, weil er erfinderisch in guten Ragouts ist? Man hat immer nur Talente, wenn sie höher führen; Niemand hat welche, um niederzusteigen; glauben Sie, daß dies so von der Natur geordnet ist? Wenn Jeder wirklich seine Anlage kennte und ihr folgen wollte, wie Viele würden es vermögen? Wie Viele würden die Hindernisse überwinden, die ihnen die Welt mit Unrecht in den Weg legt? Wie Viele würden unwürdige Mitbewerber besiegen? Der, welcher seine Schwäche fühlt, nimmt Schliche und Chikane zu Hülfe, die der Andere, welcher seiner selbst gewisser ist, verachtet. Haben Sie selbst mir nicht tausend Mal gesagt, daß so viele zum Besten der Künste gegründete Anstalten nur zu deren Schaden dienen? Indem man unbehutsam immer mehr Leute herbeizieht, vergrößert man die Gefahr, Fehlgriffe zu thun: das wahre Verdienst wird von der Masse erstickt, und die Belohnung, welche dem Geschicktesten gebührt, fällt dem Schlauesten zu. Wenn es eine Gesellschaft gäbe, in welcher die Beschäftigungen und die Stellungen genau nach den Talent und den persönlichen Verdiensten abgemessen wären, so könnte da Jeder nach dem Platze streben, den er auszufüllen am geschicktesten wäre aber man muß sich nach einer sichereren Richtschnur umsehen und auf die Würdigung des Talentes verzichten wenn das niedrigste von allen das einzige ist, mit welchem man sein Glück machen kann.
Ich muß weiter gehen, fuhr sie fort; ich kann mir nicht recht denken, daß die vielen so verschiedenartigen Talente der Einzelnen durchaus alle entwickelt werden müssen; denn sollte das eine Nothwendigkeit sein, so müßte auch die Unzahl Derer, welche sie besitzen, genau den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen. Wenn man die Feldarbeit nur Denen überließe, welche ein hervorstechendes Talent für den Ackerbau haben, oder dieser Arbeit alle Diejenigen entzöge, welche mehr Geschick zu einer andern zeigen, so würden nicht Hände genug übrig bleiben, um das Land zu bestellen und uns mit Bord zu versorgen. Ich möchte glauben, daß es mit den Talenten der Menschen wie mit den Kräften der Arzneimittel beschaffen ist, welche uns die Natur zur Heilung unsrer Krankheiten gegeben hat, obgleich im Grunde ihre Absicht ist, daß wir ihrer nicht bedürfen. Es giebt Pflanzen, welche uns vergiften, Thiere, welche uns auffressen, Talente, welche uns verderblich sind. Wenn man Alles immer nach seinen wesentlichen Eigenschaften gebrauchen sollte, so würde man den Menschen vielleicht weniger Gutes als Böses zufügen. Gute und einfache Völker haben nicht so viele Talente nöthig; sie erhalten
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