Julie oder Die neue Heloise
Wohlthaten, sowohl was die Wahl der Mittel, um dieselben nutzreich zu machen, als was die Wahl der Personen betrifft, denen sie sie spendet. Sie hat sich gewisse Regeln festgestellt, von denen sie nicht abgeht; sie versteht es, das, um was man sie bittet, zu gewähren oder zu verweigern, ohne daß sich in ihrer Güte Schwäche oder in ihrer Weigerung Laune verräth. Wer sich in seinem Leben eine schlechte Handlung zu Schulden kommen ließ, hat von ihr nichts zu hoffen als Gerechtigkeit, und wenn er sie selbst beleidigt hat, Verzeihung, nie Gunst oder Protection, die besser angewendet werden könnten. Ich habe sie mit ziemlicher Trockenheit einem Menschen dieser Art eine Gnade abschlagen sehen, welche ganz nur von ihr abhing. „Ich wünsche Euch Glück, sagte sie zu ihm, aber ich will nichts dazu beitragen, denn ich müßte fürchten, Andern zu schaden, wenn ich Euch in den Stand setzte, es zu thun. Die Welt ist nicht so arm an braven Leuten, die in Noth sind, daß einem nichts bliebe, als an Euch zu denken." Allerdings wird ihr solche Härte außerordentlich sauer, und nur selten bringt sie sie in Anwendung. Ihr Grundsatz ist, alle diejenigen für gut zu halten, von deren Schlechtigkeit sie keinen Beweis hat; es giebt nun freilich nur wenig schlechte Leute, die es nicht so geschickt anzufangen wüßten, daß ihnen nichts bewiesen werden kann. Sie weiß nichts von jener faulen Mildthätigkeit der Reichen, die dem Unglücklichen mit baarem Gelde das Recht abkaufen, ihm seine Bitten abzuschlagen, und statt einer Wohlthat, um die sie angefleht werden, nie etwas Anderes zu geben wissen, als ein Almosen. Ihre Börse ist nicht unerschöpflich, und seit sie Familienmutter ist, weiß sie sich mit der Anwendung ihres Geldes besser einzurichten. Von allen Hülfeleistungen, mit denen man Unglücklichen beispringen kann, sind Geldgaben in der That diejenigen, mit denen man am wenigsten Mühe hat, zugleich aber auch die vorübergehendsten und ungründlichsten, und Juliens Bestreben ist nicht, die Leute loszuwerden, sondern ihnen zu nützen.
Ebenso ist sie nicht mit Empfehlungen und Dienstleistungen freigebig, wenn sie nicht die Ueberzeugung hat, daß man davon einen vernünftigen und guten Gebrauch machen werde, Ihre Protection wird niemals Solchen versagt, die ihrer wirklich benöthigt sind und sie verdienen: diejenigen aber, welche ihre Unruhe oder ihr Ehrgeiz verleitet, sich erheben und einen Stand, in welchem sie sich wohlbefinden, verlassen zu wollen, bringen sie selten dahin, daß sie etwas für sie thue. Der natürliche Beruf des Menschen ist, das Land zu bebauen und von dessen Ertrage zu leben. Der friedliche Ackersmann hat, um sein Glück zu fühlen, nichts weiter nöthig, als daß er es erkenne. Alle wahren Freuden des Menschen sind ihm erreichbar; er hat nur diejenigen Leiden zu erdulden, welche von dem Menschsein unzertrennlich sind, Leiden, die Der, welcher sich von ihnen zu befreien wähnt, nur gegen andere schmerzlichere vertauscht
[Wenn der Mensch aus seiner ursprünglichen Einfachheit herausgeht, stumpft er sich so ab, daß er selbst den Sinn dafür verliert. Die Erfüllung seiner Wünsche könnte ihn zu Glück führen, nie aber zur Glückseligkeit.]
. Dieser Stand allein ist ein nothwendiger und ist der nützlichste; er ist unglücklich nur dann, wenn die anderen ihn gewaltsam tyrannisiren oder ihn durch das Beispiel ihrer Laster verführen. Auf ihm beruht das wahre Wohl eines Landes, die Kraft und Größe, welche ein Volk aus sich selbst gewinnt, indem er es von andern Nationen unabhängig, Angriffe der eigenen Behauptung wegen unnöthig macht, und die sichersten Vertheidigungsmittel darbietet. Wenn es sich darum handelt, ein Urtheil über die Macht eines Staates abzugeben, so durchmustert der Schöngeist die Paläste des Fürsten, seine Häfen, seine Truppen, seine Arsenale, seine Städte; der wahre Politiker nimmt das angebaute Land in Augenschein und besucht die Hütte des Landmanns. Der erstere sieht, was gethan ist, der letztere, was geschehen kann.
Diesem Grundsatze gemäß läßt man es sich hier, und noch mehr in Étange, angelegen sein, so viel man kann, dazu beizutragen, daß die Bauern sich in ihrem Stande wohl fühlen, ist ihnen aber nie dazu behilflich, denselben zu verlassen. Die Aermsten wie die Wohlhabenden haben eine wahre Wuth, ihre Kinder in die Städte zu schicken; die Letzteren, damit sie studiren und eines Tages große Herren werden, die Ersteren, damit sie in Condition gehen und ihren
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