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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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die man nicht erst ausdrücklich für sie zu veranstalten braucht, den Frieden und die Eintracht, die sie vor Augen haben, die Uebereinstimmung, welche sie beständig sowohl in dem gegenseitigen Benehmen Aller, als in dem Benehmen und den Worten jedes Einzelnen herrschen sehen.
    Woher sollten ihnen, die ganz in ihrer Unschuld aufgewachsen sind, Laster kommen, von denen sie kein Beispiel vor Augen gehabt haben, heftige Leidenschaften, die sie nie Gelegenheit gehabt zu fühlen, Vorurtheile. die durch nichts ihrer Seele eingeprägt werden? Sie sehen, daß keine Verirrung sich ihrer bemächtigt, daß kein böser Hang sich in ihnen zeigt. Ihre Unwissenheit hat nichts Verstocktes, ihre Begehrlichkeit nichts Eigensinniges, dem Hange zum Bösen ist vorgebeugt; die Natur ist gerechtfertigt, und Alles beweist mir, daß die Fehler, die wir ihr zur Last zu legen pflegen, nicht ihr, sondern unser Werk sind.
    So der natürlichen Neigung ihres Herzens überlassen, die durch nichts verkümmert und verleidet wird, nehmen unsere Kinder nicht eineäußerliche, künstliche Form an, sondern behalten ganz die ihrem ursprünglichen Charakter wesentliche bei; so entfaltet sich dieser Charakter täglich vor unsern Augen ohne allen Rückhalt, und wir können die Regungen der Natur bis in ihre verborgensten Anfänge studiren. Da sie die Gewißheit haben, nicht gescholten oder bestraft zu werden, so wissen sie nichts von Lüge und Heimlichkeit, und in Allem, was sie sprechen, sowohl unter einander als mit uns, lassen sie ungezwungen Alles blicken, was im Grunde ihrer Seele vorgeht. Da sie Freiheit haben, den ganzen Tag mit einander zu plaudern, so denken sie auch vor mir nicht einen Augenblick daran, sich Zwang aufzulegen. Ich gebe ihnen nie Verweise, verbiete ihnen nie den Mund, thue nie, als hörte ich auf sie, und sie könnten die tadelnswerthesten Dinge von der Welt sagen, so würde ich mich nicht stellen, als wüßte ich etwas davon; aber in der That höre ich mit der größten Aufmerksamkeit, ohne daß sie es vermuthen; ich merke mir genau, was sie thun und sagen: es sind die natürlichen Erzeugnisse des Fonds, den man pflegen muß. Ein lasterhaftes Wort in ihrem Munde ist ein fremdes Kraut, dessen Samen der Wind herbeigetragen hat; wenn ich es durch einen Verweis abschnitte, so würde es bald wieder treiben; statt dessen spüre ich im Geheimen der Wurzel nach und trage Sorge, sie auszurotten. Ich bin nichts weiter, setzte sie lachend hinzu, als die Magd des Gärtners; ich jäte den Garten, säubere ihn vom Unkraut: seine Sache ist es, die guten Gewächse anzubauen.
    Gestehen wir auch, daß bei aller Mühe, die ich anwenden könnte, eine so gute Unterstützung nothwendig ist, wenn man Erfolg hoffen soll, und daß das Gelingen meiner Bemühungen von einem Zusammentreffen von Umständen abhängt, welches sich vielleicht noch nirgend so wie hier gefunden hat. Es war der helle Verstand eines erleuchteten Vaters nöthig, um aus den hergebrachten Vorurtheilen die wahre Kunst der Kinderleitung herauszuscheiden; es war alle seine Geduld nöthig, um sich in der Anwendung derselben treu zu bleiben, ohne je das, was er lehrte, durch sein Betragen Lügen zu strafen; es waren Kinder von guter Anlage nöthig, an denen die Natur so viel gethan, daß man schon ihr Werk allein lieb gewinnen mußte; es war nöthig, Dienstboten von Verstand und gutem Willen um sich zu haben, die es sich nicht verdrießen lassen, auf die Absichten ihrer Herrschaft einzugehen. Ein einziger roher oder kriechender Mensch würde hinreichend sein, um Alles zu verderben. In der That, wenn man bedenkt, wie viele fremde Ursachen den besten Absichten schaden und die wohlberechnetsten Entwürfe zu Schanden machen können, muß man für Alles, was man Gutes im Leben thut, dem Schicksal danken und muß sagen, daß die Weisheit gar sehr vom Glück abhängig ist.
    Sagen Sie, rief ich aus, daß das Glück noch mehr von der Weisheit abhängig ist. Sehen Sie nicht, daß dieses Zusammentreffen, wegen dessen Sie sich glücklich preisen, Ihr eigenes Werk ist, und daß Alles, was Ihnen naht, gezwungen ist, Ihnen ähnlich zu werden? Mütter, wenn ihr euch beklagt, nicht von den Umständen begünstigt zu sein, wie schlecht kennt ihr euere Macht! Seid ganz das, was ihr sein sollt und ihr werdet alle Hindernisse überwinden. Ihr werdet Jeden zwingen, seine Pflichten zu erfüllen, wenn ihr die eurigen alle treu erfüllt. Sind eure Rechte nicht Rechte der Natur? Allen lästerlichen Grundsätzen zum

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