Julie oder Die neue Heloise
Laster, und Laura gewann immer mehr durch ihre Tugenden. Die Beständigkeit war übrigens auf beiden Seiten gleich; das Verdienst war jedoch nicht dasselbe, und die Marquise, erniedrigt, herabgewürdigt durch so viele Verbrechen, griff in ihrer hoffnungslosen Liebe zu Aushülfen, wie sie Laura's Liebe nicht duldete. Bei jeder Reise fand Bomston an der letzteren mehr Vollkommenheiten; sie hatte englischgelernt, sie wußte Alles auswendig, was er ihr zu lesen empfohlen hatte. Sie unterrichtete sich in allen Wissenschaften, die er zu lieben schien; sie suchte ihre Seele nach der seinigen zu formen, und was von ihren eigenen Fonds zurückblieb, verunzierte sie nicht. Sie war noch in dem Alter, wo die Schönheit mit den Jahren zunimmt. Die Marquise war in jenem, wo sie nur abnimmt, und obgleich ihr der gefühlvolle Ton eigen war, welcher gefällt und rührt, obgleich sie von Menschlichkeit, Treue, Tugenden graziös zu sprechen wußte, wurde das Alles lächerlich durch ihre Aufführung, und ihr Ruf zieh alle ihre schönen Reden Lügen. Eduard kannte sie zu gut, um noch etwas von ihr zu hoffen; er riß sich allmählich von ihr los, ohne sich jedoch ganz losreißen zu können; er näherte sich beständig der Gleichgültigkeit, ohne sie erreichen zu können. Sein Herz rief ihn unablässig zur Marquise zurück; seine Füße trugen ihn zu ihr, ohne daß er daran dachte: ein empfindsamer Mensch vergißt nie, was er auch thue, die Vertraulichkeit, in welcher er gelebt hat. Durch Intriguen, List und schwarze Handlungen brachte sie es zuletzt dahin, daß er sie verachtete; aber er verachtete sie, ohne daß er aufhören konnte, sie zu beklagen, ohne daß er je vergessen konnte, was sie für ihn gethan und was er für sie gefühlt hatte.
So, mehr noch von der Gewohnheit als von Neigung beherrscht, konnte Eduard die Attachements nicht zerreißen, die ihn nach Rom zogen. Die Süße eines glücklichen Hausstandes erweckte den Wunsch in ihm, sich einen solchen zu gründen, ehe er alterte. Manchmal warf er sich Ungerechtigkeit, selbst Undank gegen die Marquise vor, und maß nur seiner Leidenschaft die Laster ihres Charakters bei; manchmal vergaß er Laura's früheren Stand, und sein Herz übersprang, ohne daß er es wollte, die Scheidewand, die sie von ihm trennte. Immer in seiner Vernunft Entschuldigungen für seinen Hang suchend, legte er seiner letzten Reise den Beweggrund unter, seinen Freund auf die Probe zu stellen, ohne zu bedenken, daß er sich selbst einer Probe aussetzte, in welcher er ohne ihn unterlegen wäre.
Der Erfolg dieses Unternehmens und die Entwickelung der Auftritte, welche damit zusammenhingen, sind im zwölften Briefe der V. und im dritten der VI. Abtheilung so geschildert, daß in Folge des hier gegebenen kurzen Abrisses nichts mehr dunkel bleiben kann. Eduard, von zwei Maitressen geliebt, ohne eine von ihnen zu besitzen, erscheint zunächst in einer lächerlichen Situation; aber seine Tugend ließ ihnin sich selbst einen süßeren Genuß, als den der Schönheit, finden, einen solchen, der sich nicht gleich ihr erschöpft. Glücklicher in den Freuden, die er sich versagte, als der Lüstling in denen, die er genießt, liebte er länger, blieb frei, und genoß des Lebens besser als Diejenigen, welche es auskosten. Wir Blinde verbringen es alle damit, daß wir unseren Wahnbildern nachjagen. O, werden wir niemals lernen, daß von allen menschlichen Thorheiten nur die des Gerechten solcher Art sind, daß sie ihn beglücken können?
2. Analyse der „Julie" und „Abenteuer Bomston's".
In der neuen Heloise hat Rousseau seine Weltanschauung und sein Moralsystem aufs Vollständigste entwickelt. Es war ihm darum zu thun, der Welt zu nützen: er richtete sein Buch so ein, daß die Leser Etwas, nein Viel, nein Alles daraus lernen könnten, Alles, nämlich wie man tugendhaft wird, zur höchsten Weisheit und zum höchsten Glücke gelangt. Auch wir können uns diesen Roman zu Nutze machen. Um den Tugenddienst zu lernen? Wenn Einer will, ja! Ich meine aber, um diejenige Erscheinungsform des christlichen Geistes, welche für uns von noch immer mächtig einwirkender Bedeutung ist, in ihrem Wesen und in allen ihren Elementen genau kennen zu lernen. Ich habe zu dem Ende das System von Vorstellungen, welches Rousseau in der Neuen Heloise niedergelegt hat, analysirt und theile hier am Schlusse meiner Uebersetzung das Resultat dieser Arbeit mit. Die Ordnung, in welcher ich dem Leser die verschiedenen sich aus einander
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