Julie oder Die neue Heloise
entwickelnden Vorstellungen vorführe, ergiebt sich aus dem christlichen Grundgedanken Rousseau's, daß wir hienieden Fremdlinge sind, und unseren wahren Himmel droben haben. Diese Heimat, die als das Ziel Alles menschlichen Dichtens und Trachtens erscheint, wird daher auch für die Darstellung des Systems das Ziel sein müssen, während der Ausgangspunkt da zu suchen ist, wo der Mensch seinen irdischen Ursprung hat. Ich beginne mit Rousseau's Ansicht über die Natur.
*
Die Rückkehr des Menschen zur Natur, welche Rousseau fordert, ist derjenige Punkt, in welchem er den orthodoxen Christen am weitesten vom Christenthume sich zu entfernen, und die christliche Lehre geradezu aufzuheben schien. Aber mit Unrecht. Die orthodoxe Lehre bezeichnet mit dem Worte Natur die durch den Sündenfall verkehrte und verderbte Schöpfung, das von dem göttlichen Urbild abgefallene Wesen des Menschen; Rousseau dagegen versteht unter Natur die ursprüngliche Schöpfung, wie sie aus der Hand Gottes hervorgegangen. Den Sündenfall Adams und die Erbsünde sieht er as Mythen an, die, in roher Auffassung, sittenverderblich wirken können. Die Vorstellungen, welche er an ihre Stelle setzt, haben jedoch ganz denselben Inhalt, nur in neuen Wendungen.
Die Welt ist von der Weisheit ihres Schöpfers geordnet, und ist, so wie der Urheber sie gemacht hat, vollkommen gut.
Der Schöpfer hat der Welt eine Lebendigkeit eingepflanzt, welche alle Wesen durchdringt, und der innere Trieb ihres Entstehens, Wachsens und Vergehens ist. Diese innere Lebendigkeit ist eine Macht, unter deren reiner und ungestörter Herrschaft alle Wesen gut sind, jedes in seiner Art und Weise. Diese Macht ist die Natur.
Die Natur wirkt nach ewigen unwandelbaren Gesetzen. Sie macht nichts schlecht, und dem Zwecke, welchen das Gesetz vorzeichnet, unangemessen; sie irrt sich nicht, sie ist untrüglich. Das, was wir in der Natur schädlich oder böse nennen, verdankt diesen Namen nur unserer Kurzsichtigkeit, die den Zweck und das Gesetz verkennt. Es giebt allerdings auch Abweichungen von dem Gesetz, Mißgeburten. Diese Ausnahmen von der Regel liegen aber selbst in der Natur, und enthalten nur die Bestätigung des Gesetzes: es gehört zu den Wesen der Materie, daß sie der Möglichkeit des Ausartens unterworfen sei. Wenn wir dies als einen Fehler ansehen, so ist hieran wieder nur unsere Kurzsichtigkeit schuld, welche die höhere Nothwendigkeit nicht durchschaut.
Mit der Kurzsichtigkeit des Menschen ist es übrigens kein Ernst: das menschliche Denken setzt ja eben diese Nothwendigkeit, von der versichert wird, daß unsere Kurzsichtigkeit sie nicht durchschaue. Es stellt den Schöpfer, den es erschafft, selbst unter das Gesetz der Nothwendigkeit, indem es ihn mit der Freiheit ausstattet, Alles zu schaffen, was er will, nur nicht Wesen, die ihm selbst vollkommen glichen, d. h. die gleich ihm vollkommen wären: nicht Gottgleichheit, nur Gottähnlichkeit kann er den Wesen einschaffen, nur sein Bild ihnen aufdrücken, nicht sein Wesen selbst: die Gesetze, der Geist der Dinge, sind daher allein das Vollkommene, das in der Wirksamkeit durch das Wesen der Materie, des Gegentheils von Gott dem Geist, unvollkommen, der Ausartung fähig und zur Ausartung geneigt wird.
Diese Lehre, daß die Natur sich nicht irre, und daß von Natur Alles gut sei, legt Rousseau auch dem Atheisten Wolmar in den Mund, und bemerkt dabei ausdrücklich, daß sie im Munde des Atheisten auffallend sei. Nichts weniger. Rousseau hat vollkommmen richtig gegriffen; hat richtig gefühlt, daß er dem Atheisten den Glauben an eine vollkommene Weltordnung beilegen konnte. Der Gottleugner unterscheidet sich von dem Gottgläubigen nur dadurch, daß ersterer die letzte Ursache aller Dinge, welche die Ursache ihrer selbst ist, unmittelbar in der Natur aufsucht, während letzterer sie in ein Wesen außerhalb der Natur verlegt: die Sache selbst, nämlich die vollkommene Ordnung (die prästabilirte Harmonie) bleibt durchaus die nämliche.
Der Mensch ist also von Natur gut, gleich allen übrigen Geschöpfen. Wenn der Mensch böse wird, so ist das nicht die Schuld der Natur, sondern die Schuld der Menschen, welche die Natur verderben.
Der Zweck der Natur ist für alle Wesen derselbe, nämlich kein anderer, als daß sie seien, daß sie leben und sich ihres Daseins freuen, d. h. sich in ihrer Natur und ihrer Natur gemäß befriedigen. So sind auch die Menschen nur ihrer selbst wegen da, nur damit es ihnen wohlgehe: ihre
Weitere Kostenlose Bücher