Julie u Julia - 365 Tage, 524 Rezepte Und 1 Winzige Küche
deren Mutter in der U-Bahn festsaß, kann man sich so was vorstellen? - und eine 70-jährige Frau mit gefärbtem rotem Haar und schwerem Queensakzent, die mir wahrscheinlich irgendwann mal einen Denkmalsentwurf geschickt hat, und die erzählte, der Stromausfall habe angeblich die gesamte Ostküste betroffen, das seien sicher Terroristen gewesen. Der Mann brachte mich bis vor meine Wohnung.
In den normalerweise öden Straßen von Long Island City wimmelte es von Menschen, die sich mühsam und verzagt dahinschleppten, weil sie noch Meilen vor sich hatten, bis sie endlich schlafen durften. In unserer Wohnung herrschte ein rötliches Nachmittagsdämmerlicht. Auf dem Sofa saß Erics Chef und blätterte in einer Zeitschrift. Er hatte nicht vor, an diesem Abend noch bis Westchester zu laufen.
Ich schleuderte die Schuhe in den Schrank, riss mir das Kleid vom Leib - nach einem heiklen Moment, in dem es so aussah, als bekäme Eric den Reißverschluss nicht auf -, hakte unter Qualen die dämliche Tüten-BH-Korsage auf und schmiss sie in den verdammten Müll. Die Strümpfe knuddelte ich zusammen und stopfte sie in die Sockenschublade, dann zog ich Shorts und ein T-Shirt an. Ich stank, mir war heiß, und ich hatte Hunger, und dennoch hatte ich mich noch nie im Leben so bodenlos wohl gefühlt.
Seit jeher liebe ich Katastrophen. Als der Hurrikan Agnes durch Brooklyn blies, kaufte ich Konserven und Wasserflaschen und ging hinunter zur Uferpromenade, um zuzuschauen, wie diese hinreißenden Wellen über das Geländer krachten. Alles johlte vor Freude, bis auf die orthodoxe jüdische Familie, die sich fromm über ihre kleinen Lederbücher neigte und im Gebet schaukelte. Obwohl ich den Winter hasse, liebe ich den ersten großen Schneesturm im Jahr, ich liebe es, vor den Sturmwolken her durch die Stadt zu rennen, mich mit Lebensmitteln und Schnaps einzudecken und dabei mit den Ladeninhabern köstlich besorgt die neuesten Meldungen aus dem Wetterkanal auszutauschen. Wenn dieser große Sturm in der Weihnachtszeit kommt, wo wir die Familie in Texas besuchen, verspüre ich ein dumpfes, tiefes Bedauern, weil er mir entgeht.
Gott verzeih mir, aber sogar am 11. September empfand ich etwas von dieser bangen Erregung, als ich in meinen billigen Schuhen Richtung Midtown lief und nach einer Möglichkeit suchte, wo ich mein Null-Negativ-Blut spenden konnte. Wenn die Wölfe die Stadt stürmen, dachte ich, wenn sie Hatz machen auf die Frauen, die sich von koreanischen Maniküren die Nägel machen lassen, und auf die bestürzten Geschäftsmänner, die ihr Jackett überm Arm tragen und immer wieder ihr Handy ausprobieren, dann können wir Willensstarken zeigen, was in uns steckt. An jenem Tag fühlte ich mich dem gewachsen. Ich genoss den Gedanken sogar. Kein Wunder, dass das Innenministerium »Departement of Homeland Security« heißt - bei Katastrophen tritt unser angeborener Hang zu diesem ganzen Wagner’schen Heldenmist zutage.
Ich ging in die düstere Küche, um meinen Gemahl und seinen Kollegen mit Essen zu versorgen, durchdrungen von meinen Pflichten als Ehegefährtin. (Bei Katastrophen werde ich immer ein bisschen altmodisch und Donna-Reed-artig. Dann kommen mir spontan Ausdrücke wie Ehegefährtin in den Sinn.) Meine Aufgabe war es, meinem Mann und unserem unerwarteten Gast ein Essen zu bereiten, ohne auf so unbedeutende Errungenschaften der Moderne wie elektrisches Licht zurückzugreifen. Erics Aufgabe war es, fürs tägliche Brot zu sorgen, und er hatte in der Krise erstaunliche Hellsicht bewiesen und genau dies getan. Er kam mit einer Taschenlampe zu mir in die Küche und flüsterte: »Ich hab Hähnchenleber gekauft. Und Auberginen.«
»Mag dein Chef Hähnchenleber?«
»Weiß nicht. Ist auch egal. Hauptsache, er kriegt nicht erst um elf Uhr abends was zu essen.«
»Gut, dann mach ich mich mal ans Werk.«
(Ich sag nie so was wie »ich mach mich ans Werk«, nur in Krisensituationen.)
Eric küsste mich sehr du-und-ich-gegen-den-Rest-der-Weltmäßig; mir lief ein Prickeln über den ganzen Körper, und ich dachte ganz kurz an den Babyboom, der traditionellerweise neun Monate nach jedem großen Stromausfall zu verzeichnen ist. Dann zog er los und suchte sämtliche Kerzen in der Wohnung zusammen. Ich hatte gerade rausgekriegt, wie ich die Taschenlampe mit dem Kinn festhielt, damit ich kochen konnte, als Erics Chef in die Küche guckte. »Julie? Da draußen ist jemand für Sie.«
Als ich ins Wohnzimmer ging, hörte ich es. »Julie!
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