Julischatten
alles zu bedeuten?
Schlagartig verstummte der Gesang und das Wispern hörte auf. Auch die Lichtblitze verschwanden. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit und plötzlich ging das Licht an. Sim schnappte nach Luft und auch Eva stieß einen ungläubigen Laut aus. He Dog kniete vor dem Altar, unverhüllt und von seinen Fesseln befreit. Vor Sim auf dem Boden lag die Rassel. Sie war durch die Luft geflogen und hatte sie an der Schulter getroffen.
Sim spürte, wie sich ihre Ergriffenheit in Ärger wandelte. He Dogs wundersame Entfesselung, die Lichtblitze, die fliegende Rassel – das alles konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Sie waren an der Nase herumgeführt worden. Von He Dog, von Lukas, von Jimi. Enttäuschung legte sich wie eine Hand um ihr Herz und drückte langsam zu.
Der alte Mann zündete ein Salbeibündel an, holte Roos zu sich auf das Bisonfell und befächelte sie mit der großen Adlerfeder. Dabei sprach er Worte auf Lakota. Hokuspokus, dachte Sim mit Tränen in den Augen. Sie sah die Ergriffenheit auf den Gesichtern der anderen und fragte sich, warum niemand außer ihr das merkte – nicht einmal ihre Tante, die es doch besser wissen musste.
Lukas begann, die Worte des alten Mannes für das Mädchen und die Anwesenden zu übersetzen. »Er sagt, die Geister wären in der Dunkelheit gekommen und hätten zu ihm gesprochen. Er wisse jetzt die Ursache von Roos’ Krankheit.«
He Dogs Redefluss brach nicht ab, aber Lukas schien kurz zu zögern. Schließlich übersetzte er weiter: »Es hat damit begonnen, dass ihre Eltern sich nicht mehr verstanden. Roos hatte große Angst, dass sie sich trennen könnten. Das wollte sie um jeden Preis verhindern und dabei kam ihr die Krankheit zu Hilfe.«
Verblüfft lauschte Sim. Ein seitlicher Blick auf Eva und einer über He Dog und Roos hinweg zu Willem sagte ihr, dass etwas dran sein musste an He Dogs Worten. Konnte es so etwas geben? Dass Roos krank geworden war, weil sie nicht wollte, dass ihre Eltern sich trennten?
»Wenn Roos und ihre Eltern darüber sprechen und eine Lösung finden, dann hat die Krankheit keinen Grund mehr, in Roos zu wohnen, und sie kann gesund werden.«
Damit schickte He Dog das Mädchen auf seinen Platz zurück. Der Medizinmann sah von einem zum anderen und fragte, ob noch jemand der Anwesenden über seine Probleme sprechen wollte, denn jetzt wäre die Gelegenheit dazu. Dabei blieb sein Blick an Sim hängen oder vielmehr an der Rassel, die vor ihren Knien lag. Verstört schüttelte sie den Kopf.
Der Medizinmann nickte unmerklich, zündete die Pfeife an und gab sie in die Runde. Wer wollte, konnte ein Gebet sprechen, laut oder einfach in Gedanken. Danach war die Zeremonie beendet. Mit knackenden Gelenken kam He Dog auf die Beine. Er verstaute seine heiligen Gegenstände und zog sich ein T-Shirt über. Die Männer trugen sein Bett und die übrigen Einrichtungsgegenstände wieder ins Haus. Die Bilder wurden aufgehängt und die Folie vom Fenster entfernt.
Es war schon weit nach Mitternacht, als alle sich über das Essen in der Küche hermachten. Zwischen Eva und Willem herrschte eine angespannte Stimmung, die sie krampfhaft zu überspielen versuchten. Roos’ Wangen waren gerötet, ihre Augen glänzten. Sie sah nachdenklich, aber nicht unglücklich aus. Als hätte sie etwas begriffen.
Vielleicht war es ja Hokuspokus, dachte Sim. Aber er hatte etwas Erstaunliches bewirkt.
Am nächsten Morgen brachen Jo und Michael nach dem Frühstück mit zwei Autos nach Rapid City auf. Jo schärfte ihr ein, niemandem zu erzählen, dass sie nachts allein sein würde am Horse Hill. Sie sollte Licht im Haus brennen lassen und alle Türen gut verschließen, nachdem Almona gegangen war.
»Am besten, du schläfst die eine Nacht im Haus«, sagte Jo.
Sim nickte. »Ja, mach ich vielleicht.«
Kurz vor zehn kam Almona, um den Laden zu betreuen, und die Niederländer brachen wenig später zum Flughafen auf. In der allgemeinen Aufbruchsstimmung waren Sim und Roos nicht mehr dazu gekommen, unter vier Augen miteinander zu reden, aber sie versprachen, einander E-Mails zu schreiben, um in Kontakt zu bleiben. Als Roos sich von Sim verabschiedete, umarmte sie das dünne Mädchen herzlich. Vielleicht waren sie keine Freundinnen geworden in der kurzen Zeit, aber sie hatten etwas erlebt, das sie miteinander verband.
Die Van der Vaarts fuhren davon und Sim sah ihrem Wagen nach, bis die Rücklichter hinter der Biegung verschwunden waren. Es war wieder einer dieser glühend
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