Julischatten
Verteidigung sagen, aber ihre Zunge bewegte sich nicht. Was war nur in Cammies Cola gewesen? Sie versuchte, sich aufzurappeln, doch ihre Beine gehörten ihr nicht mehr. Wie sollte sie hier wegkommen, ohne Beine? Sie hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber es kamen keine Tränen.
Plötzlich spürte sie, wie Hände unter ihre Achseln fuhren. Jemand zog sie nach oben.
»Sim, Sim, bist du in Ordnung?«
Lukas. Sim klammerte sich an ihn wie an einen rettenden Strohhalm. Er legte seinen Arm fest um ihre Hüften und ihren Arm um seine Schultern.
So gelangten sie zwischen den anderen hindurch nach draußen. Lukas schleppte Sim ein Stück vom Hauseingang weg hinter einen Stapel Autoreifen. Ehe sie auch nur mit einem einzigen Wort protestieren konnte, trieb er ihr mit einem unbarmherzigen Griff den Kiefer auseinander und schob zwei Finger tief in ihren Hals. Augenblicklich schoss ihr Mageninhalt nach oben und sie kotzte sich die Seele aus dem Leib. In sauren Krämpfen würgte sie alles heraus. Sie spuckte, hustete, fluchte und heulte schließlich wie ein kleines Kind. Sie wollte nur noch sterben.
Lukas hielt sie. Er sagte nicht: Alles ist gut. Er hielt sie und Sim fühlte sich sicher bei ihm. Sicherer, als sie sich je bei einem anderen Menschen gefühlt hatte.
»Alles draußen?«, fragte er.
»Glaub schon.« Sie schniefte, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Gott, es war widerlich. Du bist widerlich, Sim. Sie schämte sich, war so wütend. Ihr Top und der Rock waren feucht. In der Dunkelheit konnte Sim nicht erkennen, was es war, aber sie ahnte es. Auch Lukas’ T-Shirt hatte etwas abbekommen. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Nie wieder Alkohol, dachte sie.
Nie wieder, nie wieder, nie wieder.
Lukas berührte sie an der Schulter. »Gehen wir, okay?«
Gehen? Sie konnte nicht gehen. Ihre Beine wollten nicht. Was da an ihrem Körper baumelte, waren zwei nutzlose, schlaffe Gliedmaßen.
»Ich kann nicht laufen«, jammerte sie.
»Du kannst«, sagte er. »Ich helfe dir.«
Lukas stand auf und zog sie nach oben. Er stützte sie und automatisch setzte Sim einen Fuß vor den anderen. Weg von diesem Haus, weg vom dröhnenden Hip-Hop, weg von Jimi Little Wolf.
»Gut so.«
»Mir ist schlecht.« Sie hatte einen widerlichen Medikamentengeschmack im Mund und ihr Zahnfleisch fühlte sich taub an.
»Tief durchatmen, das hilft. Mach die Augen zu, ich führe dich. Einfach weiterlaufen.«
Jeder Schritt dröhnte in ihrem Kopf und bei jedem Atemzug stieg ihr der säuerliche Geruch von Erbrochenem in die Nase. Es ging ihr hundeelend, aber nicht nur, weil sich ihr Innerstes nach außen gekehrt hatte. Jäh wurde Sim bewusst, was Lukas für sie tat und wie viel sie ihm bedeuten musste. Er war hier bei ihr, und obwohl er blind war, führte er sie durch die Nacht. Ihr Mageninhalt klebte an seiner Brust, aber er ließ sie nicht allein.
»Ich muss nach Hause«, stammelte Sim und öffnete die Augen. Sie liefen eine unbeleuchtete Schotterstraße entlang, die ihr vage bekannt vorkam. Der Mond erhellte den Weg.
»Du kannst jetzt nicht alleine bleiben, Sim.«
»Mir geht’s gut.«
»Ja, klar.«
»Wo bringst du mich hin?«
»Zu Henry. Wenn wir Glück haben, ist er noch wach.«
Als sie nur noch ein paar Meter von He Dogs Zufahrt entfernt waren, blieb Lukas stehen und lauschte. Jetzt hörte Sim es auch: Das ferne Hämmern der Bässe mischte sich mit dem Heulton von Polizeisirenen.
»Verdammt, die Bullen.«
»Die Bullen?«, lallte sie.
Lukas trieb sie zur Eile. »Wir müssen runter von der Straße. Kann sein, dass sie auch hier suchen.«
»Suchen? Was denn?«
»Betrunkene, Bekiffte, Zugekokste.«
Endlich erreichten sie die Abzweigung. Der Weg von der Schotterpiste zu Henry He Dogs aufgebocktem Trailer lag zwischen Bäumen, die den Mond verbargen. Schlagartig war es stockdunkel. Aber Lukas führte Sim mit einer Sicherheit, als wäre heller Tag.
»Ist noch Licht im Wohnwagen?«
»Jap.«
Lukas hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Henry, ich bin’s, Luke«, rief er. »Bist du noch wach?«
He Dogs Hund begann zu bellen und es dauerte einen Moment, bis der Alte zur Tür geschlurft kam und öffnete. »Jetzt bin ich’s wieder.« Er musterte Lukas und Sim. »Kommt rein, ihr beiden.«
Sie folgten dem alten Mann in den Trailer, wo der Fernseher lief – ohne Ton. Sim schämte sich, dafür, dass sie immer noch wankte, dafür, dass Spuren von Erbrochenem auf ihren Sachen klebten. Sie hoffte, der Indianer konnte
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