Julischatten
»Keine Ahnung, wo er steckt«, sagte sie. »Er ist achtzehn, kann gehen, wohin er will.« Ihr fehlten mindestens vier Zähne im Oberkiefer. Ein Geruch von ungewaschener Kleidung und Schweiß ging von ihr aus. Sie klang defensiv. Dachte sie etwa, Michael wäre vom Jugendamt?
»Und Jimi?«, hakte Michael nach.
Bernadine schüttelte den Kopf. »War auch die Nacht nicht da. Die Jungs werden schon kommen, wenn sie Hunger haben.« Sie legte ihre Hände auf den Tisch, stemmte sich hoch und zeigte sich in ihrer ganzen wuchtigen Fülle. Brüste schien sie nicht zu haben, nur einen riesigen Bauch. »Tut mir leid, dass ich nicht helfen kann«, fügte sie noch hinzu und humpelte ins Haus.
Nach kurzer Beratung fuhren sie zu Henry He Dog, aber auch der Medizinmann hatte kein Lebenszeichen von Lukas.
»Ich habe nicht den leisten Schimmer, wo er sein könnte, Missy«, sagte er. »Nach der Namensgebungszeremonie wollte er nach Hause und gestern habe ich nichts von ihm gehört. Luke hat gesagt, er will zu seinem Mädchen, und dort sollte er auch sein.«
Sim spürte Tränen aufsteigen. »Aber er ist nicht gekommen und angerufen hat er auch nicht. Sein Handy ist aus.«
»Tja«, He Dog rieb sich kopfschüttelnd das Kinn, »das ist allerdings merkwürdig. Das Ding hat er immer an.«
Der Indianer fragte nach, ob Jo keinen Rat wüsste. Sim erzählte ihm, dass ihre Tante nach einer Blinddarm-OP in Rapid City im Krankenhaus lag.
He Dog berührte sie tröstend an der Schulter. »Vielleicht kann sie trotzdem helfen. Ruf mich an, wenn du was über den Jungen erfahren hast. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
Sim umarmte den Alten spontan. Dann lief sie zurück zu Michael, der im Wagen wartete.
»Er weiß auch nichts«, erklärte sie, als sie wieder auf dem Beifahrersitz saß. »Aber er hat gesagt, Tante Jo würde bestimmt einen Rat wissen. Können wir hinfahren und sie besuchen?«
»Das ist eine gute Idee.« Michael ließ den Motor an und wendete den Geländewagen. Sim war dankbar, dass Michael da war, alleine wäre sie mit Sicherheit verrückt geworden.
Sie brauchten gut eineinhalb Stunden nach Rapid City, doch als sie endlich beim Regionalhospital angekommen waren, war Sims Hoffnung auf einen Tiefpunkt gesunken. Was konnte ihre Tante schon ausrichten? Schließlich hatte sie gerade eine Operation hinter sich und war noch viel zu schwach, um irgendetwas in die Wege zu leiten.
Mit hängendem Kopf trottete sie Michael hinterher in den Fahrstuhl. Ihre Tante lag im zweiten Stock, Zimmer 220. Sie liefen einen langen Gang entlang, in dem es nach Desinfektionsmitteln roch. Eine Schwester in gestärktem Weiß hinderte sie daran, das Zimmer zu betreten. Chefvisite.
Sie mussten warten und Sim beschloss, Kaffee für Michael und sie zu holen. Sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zugemacht und auf der Fahrt in die Stadt war sie mehrmals eingenickt. Auch Michael hatte gegen einen Muntermacher nichts einzuwenden.
Der Kaffeeautomat befand sich am Ende des Ganges. Sim warf die passenden Münzen ein und sah zu, wie der erste Plastikbecher sich füllte, als hinter ihr zwei junge Krankenschwestern vorbeiliefen, die sich über einen Patienten unterhielten.
»Und der blinde Junge auf 204 muss mit dem PI inhalieren. Eventuell kann er heute entlassen werden, das wird nachher der Doc entscheiden.«
Heißer Kaffee lief über Sims Finger und sie zog erschrocken die Hand zurück. In ihrem Kopf hämmerten die Worte blinder Junge und Zimmer 204.
Obwohl sie nicht an so einen verrückten Zufall glaubte, pochte die Hoffnung wild in ihrem Herzen. Mit Sicherheit hatten die Schwestern von irgendeinem blinden Jungen gesprochen. Trotzdem musste sie sich Gewissheit verschaffen – und zwar gleich.
Nur zwei Minuten später hatte sie Zimmer 204 gefunden und klopfte leise an die Tür. Als keine Antwort kam, drückte sie die Klinke herunter und steckte den Kopf ins Zimmer.
In einem der beiden Betten lag Lukas in halb sitzender Position und hatte Kopfhörer in den Ohren. Seine Augen waren geschlossen und seine Haut mehr grau als braun – doch abgesehen von ein paar versengten Haaren, aufgesprungenen Lippen und einer roten Schramme, die sich über seine linke Wange zog, schien er unversehrt zu sein. In seiner rechten Armbeuge klebte unter einem Pflaster ein Wattebausch.
Sim trat ein und schloss die Tür hinter sich. Am liebsten wäre sie Lukas sofort um den Hals gefallen, aber sie wollte ihn nicht zu Tode erschrecken. Außerdem lag im zweiten Bett ein alter Mann, der sie
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