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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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fragte Lukas nach einer Weile flüsternd.
    »Nein«, flüsterte sie zurück.
    »Soll ich dir etwas vorlesen?«
    »Du… mir… etwas vorlesen?«
    »Ja.«
    »Okay.«
    »Du musst dazu dein Hemd ausziehen.«
    Sim zog ihr Hemd aus, legte sich auf den Rücken und wartete, ein leises Summen im Bauch. Lukas hielt mit einer Hand sein langes Haar zurück, beugte sich über sie und blies seinen Atem über ihre Brüste, ihren schweißfeuchten Körper, bis sie erschauerte und eine Gänsehaut bekam. Als er die aufgerichteten Härchen und kleinen Erhebungen auf der Haut ihres Armes spürte, legte er sich wieder neben sie. Seine Fingerkuppen tasteten ganz leicht über ihren linken Arm, als würde er Punkteschrift lesen.
    »Es war einmal ein Mädchen mit heller Haut und rotem Haar«, begann er im Tonfall eines Vorlesers, »das kam in einem silbernen Vogel über das große blaue Meer geflogen, um beim Volk der Lakota Demut zu erlernen. Die Fremde traf auf zwei Brüder, der eine sehend, der andere blind. Die Brüder waren unzertrennlich und hatten einander Treue bis in den Tod geschworen. Die beiden zeigten dem Mädchen ihre Welt. Es sollte die Schönheit erkennen, die unter dem Offensichtlichen lag.«
    Immer weiter glitten Lukas’ Finger über die winzigen erhabenen Punkte auf ihrem Arm und sorgten mit kleinen Schauern dafür, dass die Gänsehaut erhalten blieb. Sim hielt den Atem an, lauschte.
    »Doch dann verliebten sich beide Brüder in das Mädchen und jeder wollte es für sich gewinnen. Der Augenbruder war der Champion, der bekam, was er sich in den Kopf setzte. Aber der blinde Bruder wollte nicht einfach so aufgeben, denn das Mädchen war etwas Besonderes für ihn und er hatte schon lange nicht mehr so für einen anderen Menschen empfunden.«
    Lukas’ Finger verharrten. Er schwieg.
    »Lies weiter«, flüsterte Sim. »Was steht da noch?«
    »Nichts mehr. Die Buchstaben sind verschwunden.« Er fuhr mit der flachen Hand sacht über ihre Brüste und sagte: »Da ist nur noch ein großes C und ich weiß nicht, was es bedeutet.«
    Sim musste lachen und drehte sich zu ihm. »Ich hab dich auch lieb«, sagte sie. »Und morgen lese ich dir etwas vor.«
    Lukas träumte, er würde auf dem Rücken eines geflügelten Pferdes über die Prärie jagen. Das Pferd hatte Ähnlichkeit mit Ghost und sie ritten dem Feuertier davon, der gefräßigen Bestie, die rasend schnell hinter ihnen her war. Als sie zur Schlucht kamen, stieß sich das Pferd mit seinen Hufen vom Felsen ab, schwang sich in die Lüfte und trug ihn in eine kühle dunkle Wolke hinein.
    Er wurde wach vom Trommeln des Regens auf dem Blechdach. Lukas brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo er war. Dann hörte er Sims gleichmäßigen Atem, roch den Duft von Himmel auf ihrer Haut. Vorsichtig nahm er ihren Arm von seiner Brust, verließ Bett und Zimmer und tappte barfuß durch den langen Flur. Er bemühte sich, leise zu sein, denn er wollte sie nicht aufwecken.
    Er entriegelte die Eingangstür, stieg die Holzstufen hinab und stellte sich ins nasse Gras. Die kalten Tropfen prasselten auf seine Haut und in wenigen Sekunden war er von oben bis unten klatschnass. Er legte seinen Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und ließ die Tropfen auf seine Zunge springen.
    Gierig trank er den Regen, der sich in seinem Mund sammelte und ein Teil von ihm wurde. Der Regen hatte ihm das Leben gerettet. Ich hab dich auch lieb, hatte Sim gesagt. Sie lag in ihrem Bett und schlief und er konnte einfach hineingehen und sich zu ihr legen. Sie berühren, überall. Das war mehr, als er sich erträumt hatte.
    Doch wo war Jimi?
    Wo schlief er? War er allein? War er noch am Leben?
    Als ihm kalt wurde, ging er wieder nach drinnen. Er zog seine nassen Shorts aus und kroch zurück zu Sim unter die Decke.
    »He«, brummte sie schlaftrunken, »du bist ja ganz nass.«
    »Ich war schwimmen«, flüsterte er. »Schwimmen im Regen.«
    Völlig durchnässt hockte Jimi in seiner Visionsgrube auf dem Bear Butte und schlotterte vor Kälte. Es war seine erste Nacht, drei weitere Tage und Nächte musste er noch ausharren, ohne Wasser und Essen, eingewickelt in die alte, nach Motoröl stinkende Decke, die er im Kofferraum gehabt hatte.
    Gleich nach der Nacht am White Horse Creek war er losgefahren, ohne etwas darauf zu geben, dass sein Mustang außerhalb des Reservats nicht zugelassen war und die Polizei ihn festsetzen konnte, wenn er in eine Verkehrskontrolle geriet. Über Red Shirt und Hermosa war er auf die Interstate und dann

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