Julischatten
gesessen hatten, standen auf. Ein Gebet, dachte Sim geistesgegenwärtig und erhob sich ebenfalls. Sie war nicht religiös, aber nicht sitzen zu bleiben, war ein Zeichen des Respekts.
Jemand anderer als Yellowhawk redete auf Lakota. Sim reckte den Hals, konnte den Sprecher jedoch nicht erkennen, um den sich eine kleine Menschentraube drängte. Sie glaubte, Lukas’ Stimme zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Die dumpfen Schläge einer Handtrommel erklangen, verstärkt durch die Lautsprecher rollten die langsamen Töne über den Platz. Dann setzte der Gesang ein, so hoch und durchdringend, dass schon die ersten Töne haltlos in Sims Inneres drangen und ihr Herz berührten. Sie schloss die Augen, um die Bilder um sich herum auszuschließen und nur der Stimme zu lauschen. Der Duft von verbranntem Süßgras wehte zu ihr herüber.
Okshila ceya I yayayo
Taku wakan wanicelo aheee o.
Oksila ceya I yayayo
Wanbli Gleska wan
Ikce wicasa ca
Cehpikoma yankelo
Okshila ceya I yayayo
Taku wakan wanicelo aheee o.
Obwohl sie kein Wort verstand, wusste Sim, dass es ein trauriges Lied war. Die Stimme hatte etwas Flehendes an sich, strahlte aber auch Kraft aus. Die Trommel verklang. »Wopila Lukas Brave«, sagte Yellowhawk und die Leute klatschten und pfiffen anerkennend.
Lukas hatte gesungen. Sim war immer noch völlig gefangen von seiner schönen, tragenden Stimme und der Eindringlichkeit des kurzen Liedes. Jimi hatte ihr erzählt, dass Lukas die Lieder von einem alten Medizinmann lernte, um später damit zu helfen und zu heilen. Jetzt begriff sie. Für einen Moment hatte Lukas’ Lied eine Tür geöffnet, um ihr den Blick in eine fremde, geheimnisvolle Welt zu gewähren.
Wenig später kam der Sänger auf Ghost angeritten und Sim bemerkte, wie die Lakota ihm ehrfürchtig Platz machten. Er glitt vom Pferd und legte die Zügel über Ghosts Rücken, der seine Handvoll Hafer bekam.
»Zwei Uhr… sieben Schritte«, sagte Sim. Lächelnd kam er auf sie zu. »Links von dir.«
Er tastete nach dem freien Stuhl und setzte sich neben sie. Die Indianer in ihrer Nähe steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, aber Sim achtete nicht mehr darauf.
»Das war ein trauriges Lied«, sagte sie, »und du hast eine schöne Stimme.«
»Danke.«
»Wovon hat es gehandelt?«
»Es geht darin um die alten Lehren unseres Volkes.« Lukas sprach so leise, dass sie sich zu ihm beugen musste, um ihn überhaupt verstehen zu können. »Darum, dass wir unsere Traditionen bewahren müssen, die zunehmend in Vergessenheit geraten. Wir wissen nicht mehr, was unsere Vorfahren wussten, und das macht uns kaputt. Die Leute sind erschöpft. Das Leben kommt ihnen unerträglich vor, deswegen trinken sie und nehmen Drogen. Sie haben vergessen, wie man ein gutes Leben führt.« Er wandte ihr das Gesicht zu. »Darum das Lied. Die Leute sollen sich daran erinnern, dass wir einst stark waren und warum wir es waren.«
Sim dachte daran, was ihre Tante gesagt hatte, und ihr wurde klar, dass Lukas, obwohl er blind war, genau zu wissen schien, was um ihn herum passierte.
»Du hast noch nicht viel mitbekommen vom Leben im Reservat, Sim. Das hier«, er machte eine umgreifende Handbewegung, »ist nicht der Alltag.«
Seine Worte gingen in fröhlichem Geschrei unter. Der letzte Wettkampf hatte begonnen.
»Was passiert jetzt?«, wollte sie von ihm wissen.
»Ein armes Bleichgesicht wird Custer spielen«, sagte Lukas. »Er bekommt die amerikanische Flagge in die Hand gedrückt und muss den Hügel hinaufreiten. Dann jagen alle hinter ihm her und derjenige gewinnt, der es schafft, ihm die Flagge abzunehmen und damit als Erster durchs Ziel zu reiten. Dem Sieger winkt übrigens ein Geldpreis.«
»Ich habe den Mann gesehen.« Nun wurde Sim einiges klar. »Er sieht tatsächlich aus wie Custer. Wo haben sie den denn her?«
»Yellowhawk schafft es immer wieder, einen aufzutreiben, der lange blonde Haare hat und willens ist, sich vor allen zum Trottel zu machen.«
Sims Blick suchte die Reiter. Der Blondschopf mit dem Hut hatte mit der Flagge in der Hand die Spitze des Hügels erreicht und der Anpfiff zur Verfolgungsjagd ertönte. Mindestens fünfundzwanzig Reiter jagten hinter dem Mann den Hügel hinauf. Vorneweg Jimi auf Black Arrow.
Die Strahlen der sinkenden Sonne fielen auf die Hügel und ließen sie in einem goldenen Licht erstrahlen. Mit wildem Kriegsgeschrei ritten die Indianer dem falschen Custer hinterher und Sim kam es für einen Augenblick so vor, als wäre sie in
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