Jung, blond, tot: Roman
inne, legte den Kopf in den Nacken, schloß die Augen. Sagte leise: »Ich möchte Dinge tun, die ich noch nie zuvor getan habe, aber ich habe Angst davor. Ich habe Angst vor dem Alleinsein, Angst vor Verantwortung, Angst vor allem Neuen. Manchmal könnte ich Daniel an die Gurgel springen, habe aber Angst, ihn zu verlieren. Ich möchte abhauen, fürchte mich aber vor meiner eigenen Courage. Ich habe im Moment einen unendlichen Haß in mir, ich hasse Daniel, ich hasse meine Mutter, ich hasse alle, mit denen ich zusammen bin - außer meine Kinder natürlich... Aber am meisten hasse ich mich selbst.«
»Haben Sie schon jemals wirklich mit ihm gesprochen? Haben Sie je versucht, ihm Ihre Gefühle klarzumachen? Kennt er Ihre Gefühle überhaupt? Ein Mensch, der die Gefühle des andern nicht kennt, kann auch nicht auf ihn eingehen, er kann sich nicht auf ihn einstellen. Sprechen Sie mit ihm. Passen Sie einen ruhigen Moment ab und öffnen Sie sich ihm, schildern Sie, was in Ihnen vorgeht. Er kann und wird nicht ständig davonrennen oder Ihnen ausweichen, dazu kenne ich ihn zu gut. Sprechen Sie mit ihm, und dann kommen Sie wieder. Kommen Sie, wann immer Sie wollen, und wenn es nachts ist.«
»Ich habe es versucht, er weicht mir aus. Ich glaube, der Riß ist zu tief. Ich bin ihm völlig gleichgültig.« Sie stand auf, streckte sich. »Erinnern Sie sich, wie ich sagte, ich hätte in einer Regentonne verschmutzte Kleidung von Daniel gefunden?« Es klingelte, der Pizzaservice. Patanec kam zurück, stellte eine Pappschachtel vor Susanne Tomlin, ging mit der anderen um den Schreibtisch herum. Sie begannen zu essen.
»Ich habe ihn am Freitag darauf angesprochen.« Sie kaute, schluckte herunter. »Sie hätten ihn erleben sollen. Ich fragte ihn, warum er mit den Sachen so achtlos umgeht. Er hat mich angeschrien und gemeint, ich würde ihm wohl nachschnüffeln. Er hat mich bei der Schulter gepackt und durchgeschüttelt und mich gewarnt, ich solle so was ja nie wieder tun. Weiß der Teufel, was in ihn gefahren war, aber ich fürchtete mich vor ihm. Der Ausdruck seiner Augen machte mir angst. Ich sagte, er solle sich wieder beruhigen, ich hätte das doch nicht böse gemeint. Er sah mich auf einmal sehr merkwürdig an, ich habe diesen Blick bei ihm noch nie gesehen, dann murmelte er eine Entschuldigung, ging weg und kam erst spät zurück. Er wirkte richtig traurig.« Sie wischte sich mit der Serviette über den Mund. »Ich wollte Ihnen das nur sagen.« »Wissen Sie, wohin er gegangen ist?« »Nein, keine Ahnung. Er sagt ja in letzter Zeit nie, wohin er geht. Und ich könnte hingehen, wohin immer ich wollte, er würde sich einen Dreck drum scheren.« Sie hielt inne und schaute Patanec aus ihren Rehaugen an, als wünschte sie sich, von ihm in den Arm genommen zu werden; unvermittelt wurde ihr Gesichtsausdruck aber abweisend, fast hart, sie lächelte ihr typisch kühles und unverbindliches Lächeln, stand auf und sagte: »Ich werde jetzt besser gehen. Vielen Dank, Dr. Patanec. Ach übrigens, die Pizza war hervorragend. Das können wir bei Gelegenheit wiederholen.«
Noch bevor Patanec ihr die Hand reichen konnte, war Susanne Tomlin weg. Als die Tür hinter ihr zugefallen war, lehnte er sich zurück, schaute nachdenklich, den linken Zeigefinger auf die Lippen gelegt, an die Tür. Er war verwirrt, er spürte die Migräne kaum noch, dafür ein leichtes Schwindelgefühl. Er dachte an seinen Traum der vergangenen drei Nächte, die immer gleichen Bilder, jedesmal war er davon aufgewacht. Er wußte, daß dieser Traum etwas bedeutete, was, das wußte er nicht, er wollte es auch lieber ignorieren, einfach nicht wahrhaben. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn, er atmete ein paarmal tief ein und wieder aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Dachte noch einen Moment an Susanne Tomlin und ihren Mann. Dann stand Patanec auf, wusch sich Hände und Gesicht, betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Trotz der Bräune war er blaß, hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er registrierte es einfach nur. Er hatte sich mit Tomlin für den Abend verabredet, eine Partie Tennis am Montag als Ausgleich für das entgangene Match vom Wochenende. Obgleich ihm im Moment gar nicht nach Tennis zumute war, er fühlte sich einfach nicht gut. Aber es drängte ihn, Tomlin zu sehen, er wollte oder besser mußte ihm ein wenig auf den Zahn fühlen, herausfinden, ob das, was Susanne von ihrem Mann behauptete, auch nur annähernd der Wahrheit entsprach.
Montag, 18.00 Uhr
Tomlin
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