Jung, blond, tot: Roman
19.00 Uhr
Er verließ das Haus pünktlich um neunzehn Uhr. Hatte sich legere Kleidung angezogen, böiger Nordwind blies ihm entgegen. Er stieg in seinen Porsche, legte das Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky in den CD-Spieler, drehte die Lautstärke hoch. Eines seiner Lieblingsstücke, das ihn immer wieder auf eigentümliche Weise erregte. Karajan mit den Berliner Philharmonikern und Kissin, ein ideales Gespann. In der Nähe der Friedensbrücke ein Unfall zwischen einem Lkw und einem Taxi, ein langer Stau. Es hatte aufgeklart, eine kalte Nacht stand bevor, vielleicht der erste Bodenfrost. Er trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad, quetschte einen derben Fluch über die Lippen, weil der Verkehr nur sehr schleppend vorankam. Er fuhr am Main entlang, passierte die Unikliniken, Niederrad und Schwanheim, bog an der Schwanheimer Brücke ab, Richtung Höchst, Kurmainzer Straße, Alt-Sossenheim. Parkte seinen Wagen auf einem kleinen Parkplatz unter einer Linde. Als er ausstieg, war es zwanzig Uhr, kalter Wind, Herbstduft.
Langsam, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben, den Kragen hochgeschlagen, bewegte er sich durch die schmalen, einsamen Gassen, kaum jemand kreuzte seinen Weg. Dunkelheit begann die Stadt einzuhüllen. Straßenlaternen flackerten auf, spendeten diffuses Licht. Ungefähr eine halbe Stunde lief er scheinbar ziellos durch den Vorort, immer den gleichen Weg, ohne das Haus aus den Augen zu lassen. Dieser ungeheure Druck, als wollte sein Kopf zerbersten. Dazu der Druck in seinen Lenden, in seinem Rücken. Seine Bewegungen mechanisch, die Gedanken nur auf das eine konzentriert. In ihm waren Druck und Haß. Der Dämon. Das eine war absolut mit dem anderen verbunden. Es war, als würde der Dämon sein wahres ICH außer Kraft setzen. Der Dämon ließ ihn nicht mehr klar denken, lenkte seine Beine, befahl, und er gehorchte bedingungslos. Der Dämon hatte sich an die Stelle seines Verstandes gesetzt. Und es war, als hätte der Dämon ihm befohlen, heute herzukommen, heute würde er sie treffen, obgleich es bald Nacht war und blonde Mädchen um diese Zeit und zu diesen Zeiten in der Regel nicht mehr allein aus dem Haus gingen.
Und dann sah er sie durch das große Tor treten, bekleidet mit einem hellen, knapp über dem Knie endenden Rock und einer dunklen Strickjacke. Sie bog ab in einen schmalen, beidseits von Zäunen und Blumenranken gesäumten Weg, Richtung Kleingartenanlage. Damenhafter Gang, erotische, anziehende Bewegungen. Ihr lockeres, seidiges Haar wurde von leichten Windstößen auseinandergetrieben. Er blieb in weitem Abstand hinter ihr. Ein Mann mit einem Irish Setter kam ihm entgegen, zwei Jungs auf Fahrrädern sausten an ihm vorbei, schließlich begegnete ihm noch eine sehr alte, gehbehinderte Frau mit einer dicken, klobigen Brille und zwei Plastiktüten in Händen. Er kam an eine freie Fläche, wo der Wind heftiger blies, Wolken wie im Zeitraffer über den dunkelblauen Himmel flogen, getrieben vom ungestümen Atem des Herbstes, der auch den letzten Rest Sommer davonjagte. Er beobachtete sie aus einer Distanz von etwa hundert oder hundertfünfzig Metern, wie sie scheinbar gedankenverloren auf eine Gruppe Bäume zulief. Bäume und ein paar Büsche; folgte man dem Sulzbach weiter, gelangte man an die Nidda. Er hielt immer den gleichen Abstand zu ihr, ein Spaziergänger. Rechts von ihm, etwa in Höhe der Büsche und Bäume die schwachen Lichter einer Gastwirtschaft. Sie hatte fast die Bäume erreicht, er beschleunigte seine Schritte. Spürte den kalten Stahl des Messers. An den Bäumen, als nur noch dreißig oder vierzig Meter sie trennten, stoppte er, als sie sich umdrehte und den Weg zurück einschlug. Aber nur er konnte sie sehen, er huschte lautlos in die Büsche, wartete, bis sie an ihm vorbei war. Er folgte ihr.
Montag, 21.00 Uhr
Er war ihr eine Stunde lang gefolgt. Dunkelheit hatte sich wie ein schützender Mantel über die Stadt gelegt, der Wind blies kalt durch ihre zu dünne Jacke, als sie an der Baumgruppe anlangte, machte sie kehrt, um den gleichen Weg zurück zu nehmen, zur Straße hin, entlang der Zäune und Sträucher, das sanfte Plätschern des Baches als Begleiter, hin zu den Häusern und der Straße Alt-Sossenheim bis zur kleinen Brücke über den Sulzbach. Sie brauchte fünf Minuten bis zur Straße, überquerte sie, lief langsam über den menschenleeren Bürgersteig, ab und zu fuhr ein Auto an ihr vorbei. An der fünf Meter entfernten Bushaltestelle zwei Frauen,
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