Jung, blond, tot: Roman
doch diese Hoffnung. Diese weisen Augen in den leidenden Gesichtern. Mütter und Väter, die an den Betten ihrer Kinder saßen, vielfach stumm, verzweifelt, einige der Kinder schliefen oder dämmerten vor sich hin, manche weinten, andere ergaben sich still in ihr Schicksal.
Schulz' Frau kam am Nachmittag. Sie besprachen die neue Situation, er fragte sie, warum sie ihm nicht von der Spenderin erzählt habe, sie antwortete ausweichend. Gegen Abend verließen Schulz und seine Frau das Krankenhaus, fuhren nach Hause, holten auf dem Weg Julian von einem Freund ab. Hunderttausend Mark - zuviel für einen kleinen Bullen!
Samstag, 13.30 Uhr
Durant mußte dreimal läuten, bis Lindner ihr öffnete. Wildwuchernde, dunkle Bartstoppeln im zerfurchten Gesicht, fettiges, ungekämmtes Haar, rot unterlaufene Augen, blasse Lippen, leerer Blick. Er machte wortlos die Tür frei. Er stank nach billigem Schnaps, leere Zigarettenschachteln auf Tisch und Fußboden, volle Aschenbecher. Außer Frau Lindner war noch eine andere Frau anwesend, die sich als Lindners Schwester vorstellte, eine kleine, hagere, schmallippige Person, mit blassen, grauen Augen in einem ausdruckslosen Gesicht. Sie verzog sich bei Durants Eintreten in die äußerste Ecke des Zimmers, als fürchtete sie sich vor ihr.
»Ich würde mir gerne das Zimmer Ihrer Tochter ansehen«, sagte Durant.
»Warum?«
»Routine, Herr Lindner. Wir möchten so schnell wie möglich den Mörder Ihrer Tochter finden, und manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die auf die Spur des Täters führen. Ein Tagebuch vielleicht oder irgend etwas anderes. Wie gesagt, blanke Routine.« »Sie hat dieses Schwein nicht gekannt, und sie hat auch kein Tagebuch geführt!« »Trotzdem, wenn ich mich bitte umsehen dürfte.« Lindner deutete mit der Hand auf die Tür, hinter der sich Sabines Zimmer befand, er ging voraus. Es war der größte Raum in der Wohnung, helle, freundliche Möbel, ein Kleiderschrank, ein Platten- und Bücherregal, ein Sekretär, eine ungewöhnlich exklusive Stereoanlage von Harman Kardon, Fernsehapparat und Videogerät. An den Wänden zwei Poster mit Werken von Claude Monet. Ein großes Fenster, das einen guten Blick auf die Rückseite des Hau 70 ses mit seiner kleinen Gartenanlage freigab, tauchte das Zimmer in helles Licht, noch eine Stunde, und Sonnenschein würde den Raum überfluten. Dieses geschmackvoll und elegant eingerichtete Zimmer stand in krassem Kontrast zum Rest der Wohnung. Lindner blieb an der Tür stehen, argwöhnisch Durant beobachtend, während sie in der Mitte stand, direkt unter einer in die Decke eingelassenen Halogenleuchte. »Sie haben eine Menge Geld für Ihre Tochter ausgegeben«, bemerkte Durant. »Ich sagte doch schon, sie war unser ein und alles. Meine Frau und ich, wir brauchten nicht viel, wir hatten genug. Man gibt doch alles für den, den man liebt.« »Ich möchte Sie jetzt bitten, mich allein zu lassen.« Lindner zögerte einen Moment, dann schloß er die Tür hinter sich. Die Kommissarin nahm sich den Schrank vor, Boutiquenkleidung, eine reichhaltige Platten- und CD-Sammlung von Klassik bis Techno. In den Schubladen des Schrankes Unterwäsche, auch hier nur beste Qualität, etwas versteckt im obersten Regal ein paar für eine Siebzehnjährige eher ungewöhnliche Stücke, Seidenslips und Netzstrümpfe, Seidenbodys und raffinierte BHs, was Durants Vermutung nur untermauerte, daß Sabine ein Verhältnis mit einem etwas reiferen und anspruchsvolleren Mann gehabt haben mußte. Schließlich durchsuchte Durant den Sekretär. Schulbücher, Hefte, Ringbücher, penible Ordnung. Beim Durchblättern der Hefte fiel Julia Durant die reife, sanft geschwungene Handschrift auf. Ein Graphologe hätte das Mädchen vermutlich als überdurchschnittlich intelligent eingestuft. Es paßte in das Bild, das sie sich inzwischen von Sabine gemacht hatte, sie war auf eine gewisse Weise ein cleveres Mädchen gewesen, auf dem besten Weg, die Enge der Kleinbürgerlichkeit wie eine lästige Haut abzustreifen. Sie nahm sich allein für das Durchblättern der Hefte und Ordner eine halbe Stunde Zeit, ohne auch nur im geringsten einen Hinweis auf einen Liebhaber oder den Vater des Kindes zu erhalten. Sie legte jedes Heft auf den Boden, alles Schulhefte von mindestens drei Jahren, die Ordner und Ringbücher legte sie daneben. Zuletzt eine Menge beschriebener loser Blätter. Auf einigen war ein Herzchen mit einem Pfeil aufgemalt, doch nirgends ein Name vermerkt. Julia Durant setzte sich auf
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