Jung, blond, tot: Roman
sich den Wecker auf halb elf gestellt. Um Viertel vor elf stand er auf, zog sich den Seidenmorgenmantel mit chinesischer Stickerei über, bürstete sein Haar, putzte die Zähne, wusch sich den Schlaf aus den Augen und goß sich einen Martini ein. Er hatte etwas zuviel getrunken und jetzt einen schweren Kopf, und er pflegte diesen Zustand stets mit Alkohol zu bekämpfen. Er stellte sich ans Fenster, der unter ihm liegende Rasen und die Straße waren regennaß. Er sah den kleinen, weißen Opel um die Ecke biegen und vor dem Tor halten. Eine junge Frau stieg aus, schlug die Autotür zu, kam mit schnellen, ausgreifenden Schritten durch das Tor auf das Haus zu. Patanec wartete, bis die Glocke anschlug, bevor er die Treppe hinunterging und die Tür aufmachte. Vor ihm stand eine hübsche, dunkelhaarige Person mit ebenso dunklen Augen und einem vollen, ungeschminkten Mund und einer auf den ersten Blick recht ansehnlichen Figur. »Dr. Patanec?« fragte Julia Durant, die eindeutigen Blicke von Patanec ignorierend. »Ich bin Hauptkommissarin Durant von der Mordkommission. Wir haben telefoniert.« Patanec grinste sie an. »Tut mir leid, wenn ich Sie in diesem Aufzug empfange, aber normalerweise ist mir der Sonntagmorgen heilig, das heißt, ich genieße den freien Tag auf meine Weise. Aber treten Sie doch bitte näher.« Er gab die Tür frei und ließ die Kommissarin an sich vorbei eintreten. »Gehen wir in mein Büro«, sagte er und ging vor ihr hinein, bot ihr mit einer Handbewegung einen Stuhl an, nahm selbst hinter seinem Schreibtisch Platz. Er nahm einen Bleistift und drehte ihn langsam durch die Finger, während er die Besucherin eingehend musterte. Sie gefiel ihm, er stand auf wohlgeformte, dunkelhaarige Frauen. »Also, schießen Sie los, was kann ich für Sie tun?« fragte er.
»Es geht um Carola Preusse, das Mädchen, das ermordet wurde. Sie war Ihre Patientin, wie ich von Carolas Vater erfahren habe.«
»Ja, das ist richtig. Ein nettes Mädchen. Wirklich traurig, was mit ihr passiert ist.« »Wie lange war sie Ihre Patientin?« »Anderthalb oder zwei Jahre, aber ich brauche nur in meinen Unterlagen nachzusehen, um Ihnen das genau sagen zu können. Warten Sie einen Moment.« Patanec zog eine Schublade seines Schreibtisches heraus und nahm die Akte von Carola Preusse in die Hand. »Nächsten Monat wären es genau zwei Jahre gewesen«, sagte er nach einem Blick darauf. »Es ist wirklich tragisch.« »Weshalb hat sie sich von Ihnen behandeln lassen?« »Nun, ich gehe davon aus, daß Sie mit den Eltern gesprochen haben und deren Einverständnis vorliegt, denn eigentlich unterliegt dies der Schweigepflicht. Aber gut, sie kam zu mir wegen Angstzuständen und Depressionen. Angstzustände sind heutzutage ein weitverbreitetes Übel, viele meiner meist weiblichen Patienten leiden darunter. Soweit ich mich erinnern kann, hat ihr Vater sie zu mir geschickt. Sie befand sich in einem seltsamen Strudel von Gefühlen. Auf der einen Seite liebte sie ihren Vater, auf der anderen Seite stand diese alles dominierende Mutter. Carola hat praktisch alles gemacht, was ihre Mutter von ihr verlangte. Der Vater hatte gegen seine Frau nicht den Hauch einer Chance, und deshalb hatte er auf Carola auch kaum Einfluß. Die extremen Angstzustände begannen bei ihr, als sie vierzehn war, sie äußerten sich körperlich in Panikattacken, Herzrhythmusstörungen oder dem Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, nicht mehr schlucken zu können, nun, es würde zu weit führen, alle Symptome aufzuführen, die ein depressiver Mensch zeigen kann. Doch die Wurzeln von Carolas Angst lagen eindeutig in der Beziehung zu ihrer Mutter und in einer unglaublichen Furcht vor Gott. Sie lebte in ständiger Angst davor, etwas falsch zu machen und dadurch Gott nicht zu gefallen. Diese Angst hat ihr Leben bestimmt und sie richtiggehend gelähmt. Ich versuchte eine Hypnosebehandlung, aber wir erzielten nur geringe Fortschritte. Ihr ganzes Inneres hat sich mit aller Macht gegen diese Form der Einflußnahme gesträubt. Erst in letzter Zeit stellte sich eine leichte Entkrampfung ein, auch wenn ich glaube, daß es noch mindestens ein oder zwei Monate gedauert hätte, bis sie wirklich für Hypnose bereit gewesen wäre. Ich habe dann, um ihre Angst und Verschlossenheit zu lösen, etwas anderes probiert, ich habe sie aufgefordert, sie solle einfach ihre Gefühle und Gedanken aufschreiben und mir diese Aufzeichnungen jedesmal vor Beginn einer Sitzung geben. Offensichtlich war das ein
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