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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Schwarzer und grauer Fels ging jäh in einen Uferverlauf über, und genau dort war eine Eisscholle, zweimal längsseitig gebrochen und nicht mehr glänzend weiß. Vom Ufer öffnete sich der Blick weit über den See. Er war von den Bergen umgeben, hier und da mit weißen Eisresten. Das Wasser wirkte im ersten Moment hell türkis. Aber der Eindruck mochte ausgelöst sein vom Kontrast der schwarzen Steine. Melina überlegte, wie sie die Farbe nennen sollte. Das Wasser war milchig, hell, es schien dort, wo die Sonne in Flecken aufschlug, kurz davor zu sein, oliv zu werden, aber im Grunde war es weiß.
    »Der Lago Bianco, Gesine!«
    Die Station Bernina-Hospiz lag direkt am See.
2328   m
zeigte ein Schild. Melina war nicht beeindruckt, schließlich gibt es Achttausender auf der Erde. Mitten auf dem Bahnsteig lag ein unförmiges Etwas unter einer dreckig-weißen Plane. Dann erst erkannte Melina, dass auch das ein Rest Winter war. Vor einem Lokschuppen hatte sich eine noch größere Form niedergelassen. Die Sonne hatte sie abgerundet und zu einer Skulptur geformt, und trotz der klaren Bergluft schien es über die Monate so viel Staub zu geben, dass das verkarstete Schneeeis grau geworden war.
    »Im Juni ist der Winter hier noch nicht ganz entschwunden«, sagte die ältere Frau, als lese sie es aus einem Reisebuch ab.
    Melina angelte ihren Rucksack von der Ablage, aber der Zug brauchte eine Weile, um sich am Lago Bianco entlangzuhangeln. In der Zwischenzeit konnten ihr die beiden Damen noch eine Menge erzählen.
     
    Gleich nach der
Galeria Grüm,
dem dreihundert Meter langen Holzverschlag zum Schutz vor Geröll und Lawinen, sah Melina den kleinen Bahnhof, der sie an eine Burg erinnerte. Felsgestein, Steinschindeln, zwei Türmchen und wulstige rote Buchstaben, die einzeln auf dem Stein befestigt waren.
    Pia hätte ihre Freude an den Buchstaben.
    ALP GRÜM
stand da selbstbewusst, daneben
ALPE GRÜM
. Auf einer kleinen Holztafel dasselbe noch einmal auf Japanisch.
    Im Nieselregen wartete auf dem Treppenansatz eine Frau mit teakbraunem Scheitel. Sie lächelte. Melina war die Einzige, die ausstieg. Sie spürte die Augenpaare aus den Panoramawaggons in ihrem Rücken.
    »Sie sind bestimmt die junge Dame, die vorhin angerufen hat?«
    »Melina von Lüttich.«
    »Herzlich willkommen auf der Alp Grüm. Kann ich Ihnen den Rucksack abnehmen?«
    Die Geschäftsführerin zeigte ihr das Zimmer im ersten Stock. Doppelbett. Helle, einfache Möbel. Eine Schale Obst als einziger Luxus. Ein Stück Schokolade auf dem Kopfkissen, dreieckig.
    »Ist hier eine Jugendgruppe einquartiert?«
    »Keine Bange. Die sind abgereist.«
    »Nein, ich meine   … eine Gruppe aus Berlin. Die waren hier, sind aber weitergefahren?«
    Die Frau hatte Augenringe, als habe sie Tage nicht geschlafen. Oder geweint. »Die Berliner, ja, die waren für zwei Nächte bei uns.«
    Melina stöhnte. »Wissen Sie, wohin sie weitergefahren sind? Eine Freundin von mir sollte dabei sein. Ich wollte sie überraschen.«
    »Sie wollten in Ospizio Bernina nächtigen«, sagte die Frau nachdenklich.
    Das Ch erinnerte Melina an Pias Schweizer Dialekt. Wahrscheinlich stammte sie aus einem anderen Kanton, aber Melina konnte so feine Unterscheidungen nicht feststellen. Sie war froh, dass sie nicht auf Französisch oder Italienisch angesprochen wurde.
    »Ospizio Bernina? Das ist die Station am Lago Bianco?«
    »Aber ja. Wenn ich es richtig verstanden habe, wollten sie von dort noch einmal eine Tour unternehmen, über den Sassal Mason und vielleicht noch mal zu einem Imbiss bei uns.«
    »Sie kommen wieder her?«
    »Gebucht haben sie nicht, aber es könnte sein.«
    »Und wie lange werden sie in Ospizio Bernina bleiben?«
    »Nur eine Nacht, glaube ich.«
    Melina rieb sich das Gesicht. Irgendwie war kein klarer Gedanke zu fassen.
    Die Geschäftsführerin streichelte Melinas Arm. »Wir haben ganz frische Pizzoccheri angerichtet. Wenn Sie sich gestärkt haben, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
    »Ich habe   … eigentlich keinen Hunger.«
    »Wenn Sie es sich anders überlegen, sagen Sie mir bitte Bescheid. Wenn keine Bergwanderer vorbeikommen, sind Sie heute Abend der einzige Logiergast. Es ist besser für die Küche, wenn wir rechtzeitig wissen, dass Sie essen wollen.«
    Melina legte sich aufs Bett und folgte dem hellen Holzmuster der Decke.
    »Ich habe seit gestern Nachmittag nichts gegessen.«
     
    Die Pizzoccheri erwiesen sich als Buchweizennudeln, vermengt mit Kartoffeln, frischem

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