Jung genug zu sterben
wäre, personell bereitzustehen. »Vorsichtshalber gebe ich Ihnen den Schlüssel für die Eingangstür und meine Handy-Nummer. Karl ist zuverlässig als Nachtportier, hat aber manchmal einen festen Schlaf. Er weiß, dass er Ihnen morgen Früh essen bereiten soll. Ich kann leider morgen kein Buffet anbieten, will wir alle in Tirano sind.«
»Bei der Beerdigung … «, sagte Melina und traute sich nicht zu fragen.
Die Frau weinte. »Ein junges Mädchen. War nur ganz kurz hier … «
Melina dachte nicht nach, sondern zog das Foto von Lena aus ihrem Portemonnaie. »Aber nicht das hier?«
Die Frau wischte die Tränen fort und hatte offenbar Sorge, das Foto zu benetzen. »Nein. Riccarda.«
»Und die hier? – War die hier?«
Wie herzlos.
Sie nahm das Bild noch einmal zur Hand. »Entschuldigung vielmals, aber – nein. Ist das Ihre Freundin?«
»Ja. Lena Jenisch.«
»Riccarda hat hier gearbeitet. Sie war so fleißig. Und so lieb.«
In der Nacht dröhnten die Bomber am Himmel.
Melina stieg in T-Shirt und Unterhose ins Untergeschoss und suchte nach einer Sirene, um die anderen zu warnen. Einen Alarmknopf wenigstens. Licht durfte sie nicht machen, das wusste sie aus den Erzählungen ihrer Großmutter. Beim Handy verwählte sie sich mehrfach, dann gab es seinen Geist auf.
Sie sah keines der Flugzeuge, aber der Himmel war gemustert von fallenden Bomben. Sie rannte in das Bahnhofsgebäude zurück und duckte sich unter einem der langen Restauranttische, bevor die Detonationen begannen.
Das Gebäude erzitterte, und Melina überlegte, was schlimmer war: der direkte Treffer einer modernen Bombe oder eine vom Druck ausgelöste Lawine. Konnte das Gebäude womöglich abrutschen und ins Tal stürzen?
Als es ruhiger wurde, hörte sie weit entfernt die Sirenen. Das heißt doch, sie kommen zurück? Jetzt erst sah sie den Lichtschein aus der Küche. Vorsichtig tastete sie sich imDunkeln voran. Da werkelte jemand. Im Schein eines Feuers im Herd stand in einem wahren Festsaal von Küche: Jenissej.
»Ich bereite das Frühstück vor«, erklärte er. »Geht es dir gut?«
»Alles okay«, stammelte sie. »Was ist mit Lena?«
»Wir sind extra ihretwegen gekommen«, sagte er. »Es wird das Leichenschmausfrühstück.« Er schmeckte eine Vanillesoße im Topf ab.
Melina merkte, dass sie ein sehr weites T-Shirt anhatte. Der Ausschnitt war viel zu groß, er hing jetzt unter ihrem Busen. Sie versuchte, es hochzuziehen, aber sie hatte auch keine Unterhose mehr an.
Jenissej lachte. »Mach dir keine Sorgen, Melpomene. Das ist schon in Ordnung. Musen sind nackt.«
Auf der Terrasse hing Pia überm Geländer. Sie war angekettet, machte aber mit dem anderen Bein Dehnübungen. Der Himmel rot und gelb erleuchtet von fernen Explosionen, und immer wenn es hell war, sah man das Muster der fallenden Bomben.
»Was ist mit Lena?«, schrie Melina.
Aber Pia, die völlig überschminkt war und an dem angeketteten Bein blutete – Melina konnte bei der langgezogenen Fleischwunde nicht hinschauen –, plauderte vergnügt auf Schwyzerdütsch und zeigte ins Tal hinunter.
Bei der nächsten Explosion sah Melina im Geröll ein unbekleidetes Mädchen liegen. Die weiße Leiche von Lena.
Melina krallte sich in den Stoff und bestand darauf, wach zu werden. Aber es gelang nicht. Endlich sah sie den Obstteller auf dem Nachttisch. Wo ist diese verdammte Sirene? Sie tastete nach ihrem T-Shirt . Ich bin noch nicht da, ich muss diesen verdammten Jenissej … Es dauerte einenschweren Kampf, und die schmerzenden Beine waren wie Verwundungen.
Was treibt mein Gehirn, wenn ich nicht aufpasse?!
Sie torkelte zum Fenster und öffnete es. Sternenklar. Keine einzige Bombe. Das Rauschen der Wasserfälle im Vadret dü Palü. Und dieser verdammte Jenissej.
42
»
Ignoranz
ist mir zu diffus«, sagte Schroeter. »Das ist reine, pure Bühne. Konzentration auf Ausdruckstanz, würde ich sagen. Dazu brauchst du mich nicht.«
Jenissej lag auf dem Fußboden des Raumes, den er »Oskars Schnippelbude« nannte. »Ich filme alle Experimente zu
Ignoranz
mit, was meinst du? Dann sehen wir, wie wir das integrieren. Notfalls machst du einfach bloß ’ne Doku draus.«
»Achchch!« Schroeter winkte mit großer Geste ab. »Mich spricht das Thema ü-ber-haupt nicht an! Keine Spur! Rechne einfach nicht mit mir.«
»Und was willst du stattdessen machen, Oskar? Filmchen mit Wim? Wum? Wendelin?«
»Ist doch egal. Mach dir um mich keinen Kopf. Notfalls prostituiere ich mich mit dem
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