Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
Dysfunktion. Doch damit nicht genug: B. berichtet, dass er außergewöhnlich viel Sport treibe – schließlich könnten Hormone ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn man sich körperlich und geistig betätigt. Muskelkraft und Koordination seien infolgedessen ›im 50er-Bereich‹, würden also den Leistungen eines 50-Jährigen entsprechen. Auch mental sei er topfit: Jeden Abend löse er ein Sudoku und besuche regelmäßig den Memory-Verein. Dann rückt B. mit dem wahren Grund seines Besuchs heraus: Ihm fehle die Zeit für andere Dinge! Mittlerweile sei sein ganzer Tag mit Gehirnjogging und Sport gefüllt. Außerdem gebe er viel zu viel Geld für Anti-Aging-Medikamente aus. Seine Frau – wie auch seine Geliebte – hätten ihnzuletzt beschworen, endlich mit einem Psychiater zu sprechen; denn was er tue, sei doch völlig verrückt!«
»Um die tatsächliche
Arbeit des Denkens
zu vermeiden,
beschreitet der
Mensch jeden
möglichen Ausweg.«
Thomas Edison
Hinter diesem Verhalten steckt eine große Unsicherheit hinsichtlich der Tatsache, was man im Alter, vor allem im Alter von 60 bis 75 Jahren, für sein Gehirn tun kann, damit es leistungsfähig bleibt. Fest steht: Das Gehirn gehört zu den Organen, die durch Gebrauch gestärkt werden und nicht durch dessen schonende Nutzung. Aber woran liegt das, und welche Geistestätigkeiten stärken das Gehirn? Muss man, wie oben beschrieben, seinen gesamten Alltag (und seine finanziellen Ressourcen) darauf ausrichten, um Alterungsprozesse im Kopf zu verhindern? Die Antwort ist schnell gegeben: Nein, muss man nicht – zum einen weil es andere Maßnahmen gibt, die sich gut in den Alltag einbauen lassen, und zum anderen weil man nüchtern feststellen muss, dass wohl nichts in absehbarer Zeit Alterungsprozesse im Gehirn wird komplett anhalten oder gar umkehren können.
Was aber kann Gehirnjogging, also die gezielte Aktivierung des Gehirns, konkret bewirken? Am besten gesichert ist hier die Erkenntnis, dass lebenslanges Lernen das Gehirn länger jung hält, Alterungsprozesse im Gehirn verlangsamt und kognitive Reserven verbessert. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Lernen anregend auf die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus wirkt, jenem Areal, welches so wichtig für viele Lern- und Gedächtnisprozesse ist. Wie wir gesehen haben, können auch alte Gehirne noch neue Nervenzellen bilden – durch sportliche Betätigung und in der Tat durch Gehirntraining: Wer sein Gehirn mit Denk- und Gedächtnisaufgaben fordert, bei dem, so legen es jedenfalls tierexperimentelle Studien nahe, werden sich in Schaltkreisen vor allem des Hippocampus mehr neue Nervenzellen etablieren können. Ganz nach dem Motto: »Nutze dein Gehirn und mache mehr draus!« – was weit über das lang bekannte Motto »Nutze es, um nichts zu verlieren« (use it or loose it) hinausgeht.
Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, welche Funktion diese neuen Nervenzellen haben, ist eine Theorie von Fred Gage vom Salk-Institut in Kalifornien von Interesse, der als einer der Ersten die adulte Neurogenese im Säugetiergehirn und im menschlichen Gehirn nachweisen konnte: Neue Nervenzellen helfen Assoziationen zu formen, und zwar sollen sie autobiographische Erinnerungen verschiedener Natur (Geruch, Erlebnis, Umstände) zu einem einheitlichen Erlebnis zusammenfügen. Je mehr neue Neuronen man hat, desto mehr Assoziationen bilden sich zwischen einzelnen Ereignissen/Fakten. In diese Theorie passt auch der Befund, dass neue Nervenzellen in den ersten Tagen ihrer Integration in neuronale Schaltkreise leichter erregbar sind; sie reagieren auf den hemmenden Botenstoff GABA (Gamma-Amino-Buttersäure), der durch einen einzigen Schritt aus der Aminosäure Glutamat entsteht. Neue Neuronen saugen GABA aus der Umgebung auf und werden dadurch erregt, während umliegende reife Neuronen gehemmt werden. Im Unterschied zu allen umliegenden Neuronen kodieren neue Nervenzellen Informationen in einer bestimmten Phase der Informationskodierung und fügen all diese Einzelinformationen zu einem großen Ganzen zusammen. Da ihre neuronale Einbindung in bestehende Schaltkreise »einmalig« erfolgt, haben sie ein »zeitlich gestempeltes Gedächtnis«. Dies führt zu einer Erregungsspur, die sich in die Stärke der synaptischen Verschaltung einbrennt und erhalten bleibt.
Hinzu kommt, dass diese neuen Nervenzellen plastischer und leistungsfähiger sind, wie eine Freiburger Arbeitsgruppe um Josef Bischofberger und Peter Jonas zeigen
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