Junge rettet Freund aus Teich (German Edition)
runterzudrücken, aber er bewegt sich nicht einen Millimeter. Und kein Schaffner weit und breit! Ich bekomme es mit der Angst zu tun, dass der Zug plötzlich wieder abfährt und ich dastehe wie ein begossener Pudel, und dann nützt mir mein dusseliger Koffer auch nichts. Plötzlich schiebt mich ein dicker Mann beiseite und drückt mühelos den Griff herunter. Als er eingestiegen ist, dreht er sich um, schaut mich verächtlich an und sagt: «Mehr Speck essen.» Sofort stelle ich mir vor, dass so einer mein Vater ist. Schrecklich.
Das Abteil ist gähnend leer, ich schätze, weil Wochenende ist und niemand zur Arbeit fahren muss. Zwei Viererbänke weiter sitzt der Mann und beobachtet mich. Ich öffne das Fenster und strecke meinen Kopf hinaus. Es fühlt sich gut an, wie der Fahrtwind meine Haare zerzaust. Mutter hat mir verboten, während der Fahrt den Kopf hinauszustrecken, angeblich würden einem fortwährend Dinge ins Auge fliegen, wer’s glaubt, wird selig. Unser erster Halt ist Hittfeld. Der Bahnsteig ist menschenleer, und niemand steigt ein oder aus. Die nächsten Stationen heißen Klecken und Buchholz. Mein Gesicht ist vom Fahrtwind ganz taub, und ich setze mich wieder und widme mich der Leckmuschel. Plötzlich steht der Mann auf, setzt sich mir gegenüber und fragt, wie ich heiße.
«Mathias.»
«Aha. Hör mal, Mathias, es ist ziemlich gefährlich, während der Fahrt den Kopf aus dem Fenster zu halten.»
Der Mann riecht nach Braten.
«Finde ich nicht.»
«Und wie du aussiehst. Kämm dich mal.»
Ich bin starr vor Schreck. Er wiederholt seinen Befehl: «Los, kämm dir mal die Haare, du wirst in deinem Koffer ja wohl ’ne Läuseharke haben.»
So was habe ich noch nie erlebt! Der hat mir doch gar nichts zu sagen! Wenn der Koffer nicht wäre, würde ich einfach wegstratzen, aber so muss ich mich wohl oder übel fügen. Es ist auch kein anderer Fahrgast weit und breit, der mir helfen könnte. Und der Mann sieht aus, als würde er mir eine knallen, wenn ich widerspreche. Ich öffne den Koffer, was mir sehr peinlich ist, denn jetzt kann er sehen, was ich alles mithabe. Ich krame aus der Kulturtasche meinen Kamm und gehe mir damit durch die Haare. «Du kannst dich doch nicht blind frisieren! Da machst du doch alles nur noch schlimmer. Bei so was geht man auf die Toilette, wo ein Spiegel ist.» Er nimmt meine Hand und zerrt mich durch den Wagen, bis wir an die Zugtoilette gelangen. Er reißt die Türe auf und bedeutet mir mit einer Handbewegung, dass ich dort hineingehen soll. Eine Sekunde denke ich, dass er mitkommen will, aber dann begibt er sich zum Glück zurück an seinen Platz. Der Spiegel ist halb blind und hat mehrere Sprünge. Was soll ich nur machen? Der Zug wird langsamer und hält in Sprötze, der vorletzten Station. Ich beschließe, bis Tostedt auf der Toilette zu bleiben, und dann schnell zum Koffer hin und weg. Der kann mich schließlich nicht festhalten, denn das wäre Freiheitsberaubung. Aber wenn ihn das alles nicht interessiert? Sprötze ist der kleinste Bahnhof von allen, da steigt bestimmt auch wieder keiner zu. Ich lausche, ob eine Tür aufgeht, nichts. Der Zug fährt an, gleich wird er bestimmt an die Tür wummern, um mich rauszuholen. Zufällig weiß ich, dass der Zug von Sprötze bis Tostedt genau vier Minuten braucht, ich habe aus Langeweile mal die Sekunden mitgezählt. … Achtundfünfzig, neunundfünfzig, sechzig. Dann noch mal. Und noch mal. Ich lasse weitere 30 Sekunden verstreichen und öffne vorsichtig die Tür. Das Abteil ist leer. Der Mann ist wohl in Sprötze ausgestiegen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal so erleichtert war. In meinem Koffer hat er zum Glück nicht rumgewühlt. Ich packe die Kulturtasche wieder ein und gehe schon mal Richtung Ausgang. Gerade fährt der Zug in den Bahnhof ein. Das ist Timing! Plötzlich bekomme ich Panik, dass die Tür wieder nicht aufgeht. Was mache ich dann nur? Weiterfahren. Scheeßel. Rotenburg. Endstation Bremen. Ich drücke probeweise den Knauf nach unten, zum Glück geht sie von innen mühelos auf, und der Albtraum hat ein Ende.
Oma Emmi
Auf dem Weg zu Oma Emmi benutze ich eine Abkürzung, die mich statt durch den Ortskern von Todtglüsingen über einen staubigen Trampelpfad an den Bahngeleisen und der abgebrannten Munitionsfabrik entlang bis zur Eisenbahnbrücke führt. Die Schienen leuchten in der Sonne, herrlich ist das. Dann geht’s links die Schulstraße hinunter zu Oma Emmis Haus. Bis vor ein paar
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