Junge rettet Freund aus Teich (German Edition)
Andere Kleinkinder hätten sich doch sicher schon mal irgendwie gemeldet. Noch findet ihr Vater sie süß, aber wenn ihre Behinderung mit fortschreitendem Alter mehr und mehr zutage tritt, bestimmt nicht mehr. Als der Abspann zu «Die Leute von der Shiloh Ranch» erklingt, wird mir einerseits ganz wehmütig ums Herz, weil ich ja jetzt normalerweise zum Bahnhof müsste, heute aber nicht: Ausnahmsweise darf ich noch zum Abendbrot bleiben, und außerdem liegt noch eine ganze Woche Ferien vor mir! Wenn das Wetter mitspielt, gehen wir jeden Tag zur Tonkuhle, aber wird es schon, es gab ja während der gesamten Zeit keinen einzigen Regentag!
Und so geht es auch weiter, jeden Tag herrlichster Sonnenschein, kein Wölkchen trübt den strahlend blauen Himmel, man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass es überhaupt noch mal anders wird. Trotzdem schlägt mir der Gedanke mächtig aufs Gemüt, dass die Sommerferien übermorgen unwiderruflich vorbei sind und ich aufs Gymnasium muss.
Jens hat heute keine Zeit, weil er seinen Vater zu irgendwelchen Einkäufen begleitet. Mir soll’s recht sein, wenn ich’s mir aussuchen könnte, bin ich sowieso lieber mit Manfred alleine, hab ich mir mal überlegt. Als wir von der Tonkuhle zurückkommen, hören wir es schon von weitem: schrille, spitze Schreie, als ob jemand abgestochen wird. Und dann sehen wir die Bescherung: Der kleine Kai sitzt im Kirschbaum. Herr Holzapfel hat ihn gestellt; er steht breitbeinig mit einer Weidenrute unter dem Baum, und so, wie Kai aussieht, hat er schon einiges an Schlägen kassiert. So hoch er auch in den Baum klettern mag, der Hüne erwischt ihn doch. Schon holt er erneut aus und lässt die Rute auf Kais nackte Beine zischen. Eine Lektion, die sich gewaschen hat, da hätte der kleine Kai besser die Finger von Holzapfels Früchten gelassen.
«Die Kirschen musst du dir verdienen, für jede Frucht gibt’s einen Schlag. Und wenn du schreist, schlag ich doppelt hart. Das war noch gar nichts, sollst mal sehen.»
Die Striemen zeichnen sich rot auf Kais Haut ab, er wimmert vor Angst und Schmerzen, zu schreien traut er sich nicht, denn er weiß, dass Herr Holzapfel es bitterernst meint. Mit seinem breiten Kreuz und dem glattpolierten Eierschädel sieht er aus wie Meister Proper in unfreundlich.
«Pass up, ich zähl jetzt bis zwanzig, und dann gibt’s wieder einen.»
Herr Holzapfel beginnt zu zählen, man spürt richtig, wie viel Spaß ihm das macht.
«Eins, zwei, drei …»
Kai wimmert vor sich hin. Auf welchen Körperteil es Herr Holzapfel wohl als Nächstes abgesehen hat? Ich habe mal in einem Piratenfilm gesehen, wie ein Matrose zehn Schläge mit der neunschwänzigen Katze verabreicht bekam, da hat sich der Kapitän zwischen den einzelnen Hieben auch besonders viel Zeit gelassen.
«… achtzehn, neunzehn, zwanzig.»
Diesmal ist der Po Zielscheibe. Kai ist völlig außer sich vor Panik; krampfhaft hält er immer noch den Korb mit dem Diebesgut umklammert. Das sollte er besser seinlassen.
«Lässt du wohl den Korb los, du Spastiker!»
Kai schnallt gar nichts mehr. Jetzt kann ich mir gut vorstellen, was es bedeutet, vor Angst nicht mehr zu wissen, was oben ist und was unten. Hummel kommt in mächtigen Sätzen herbeigesprungen und feuert sein Herrchen durch wüstes Gebell zusätzlich an. Ich frage mich, was passieren würde, wenn ich der Kirschendieb wäre? Ob Herr Holzapfel mich verschonen würde? Ich glaube kaum.
«Fünfzehn, sechzehn.»
Der nächste Countdown ist im Gange. Diesmal erwischt Herr Holzapfel Kai am linken Arm, sodass der endlich den Korb loslässt und sich das Diebesgut auf dem Erdboden verteilt. Jeder andere hätte spätestens jetzt von dem zitternden Bündel Mensch abgelassen, nicht so Herr Holzapfel. Eine echte Gemeinheit, wo Kai doch bestimmt noch nicht mal weiß, dass er etwas Unrechtes getan hat, er hatte wahrscheinlich einfach nur Appetit auf Obst. Frau Holzapfel kommt herbeigeeilt und versucht, ihren Mann zur Vernunft zu bringen.
«Nun ist aber langsam mal genug, du schlägst den Jungen noch tot.»
«Von so ’n paar Schlägen stirbt man nicht. Der soll nie wieder in sei’m kleinen Scheißleben an unser Obst rangehen.»
Zu guter Letzt gesellt sich auch noch Frau Schlummbohm dazu.
«Lass mal jetzt, Wilfried, der Jung’ hat seine Lektion gelernt.»
Enttäuscht lässt Herr Holzapfel die Rute sinken, er traut sich nicht, seiner Mutter zu widersprechen. Kanns’ mal sehen, jeder Mensch hat irgendeinen anderen Menschen, vor
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