Jungen und Maedchen - wie sie lernen
Problem scheint ja neu zu sein, denn in früheren Zeiten kam es weit seltener vor, daß so viele Schüler (und einige Schülerinnen) die Schule verließen und unfähig waren, einigermaßen zu lesen und zu schreiben. Was hat sich geändert?
Zwei Dinge: ERSTENS wissen wir, daß das „chronologische Alter“ für das Erlernen bestimmter Tätigkeiten mindestens mit der Einschränkung „plus/minus 2“ gilt (vgl. Randziffer 2: Lernfenster , Seite 20 ff.), so daß Kinder früher mehr Zeit hatten, bei einigen Anforderungen in Ruhe „aufzuholen“. Heute werden bereits viel zu kleine Kinder als „lesegestört“ eingestuft (abgestempelt).
ZWEITENS hält sich hartnäckig das Gerücht, diese Kinder seien „krank“, sie hätten einen Gehirnschaden, was der Begriff „DYS-LEXIE“ ja auch suggeriert. Die Vorsilbe „dys“ bedeutet, daß etwas fehlerhaft im ursprünglichen Wortsinn ist, daß etwas fehlt. Ist z. B. ein Junge vollkommen farbenblind (dies kann nur Jungen passieren, es handelt sich um einen genetischen Defekt, der nur männliche Wesen treffen kann), dann fehlen die Farbrezeptoren im Auge, also handelt es sich um einen Fehler , eine Dys-Funktion im Auge-Gehirn-System. Somit ist die Vorsilbe „dys“ gerechtfertigt. Fragen wir hingegen, was bei der sogenannten „Dys-Lexie“ eigentlich fehlt, wird es schwierig. Eltern stoßen bei LehrerInnen auf hilfloses Achselzucken. Am häufigsten hören wir etwas über die Unfähigkeit, zwischen gewissen Formen zu unterscheiden. Betroffene Kinder verwechseln Buchstaben wie „b“, „p“, „d“, „q“ etc., deren „Rucksack“ jeweils an einer anderen Stelle „hängt“, das könnten sie nämlich aufgrund des mysteriösen Gehirnschadens nicht begreifen. Das ist eigenartig. Denn es handelt sich wieder einmal vornehmlich um Jungen. Jungen aber gehören zu den „ Augentieren “ , d. h., sie können gerade visuelle Formen besser erkennen/unterscheiden als Mädchen. So fällt ihnen Fährtenlesen wesentlich leichter als Mädchen (auch wenn beide parallel unterwiesen werden). Eben weil sie genetisch prädestiniert sind, visuelle Formen zu unterscheiden. Warum sollten dann gerade Jungen Probleme haben, zu erkennen, an welcher Stelle ein Buchstabe seinen „Rucksack“ trägt?
Die Behauptung ist eine jener Halbwahrheiten, die gerade deshalb so schwer zu entkräften sind, weil sie „halb wahr“ sind. Und zwar im doppelten Sinne (was sie nicht ganz wahr macht).
Anmerkung: Wiewohl wir bei den meisten angeblich „dys-lexischen“ Kindern nicht von einer Dys-Funktion sprechen dürfen, wie wir noch sehen werden, will ich zunächst die kleine Teilmenge jener diskutieren, die tatsächlich ein lösbares Problem im Hirn haben.
Erster Zusammenhang: Formenvielfalt
Ron DAVIS (Legasthenie als Talent-Signal) , ein Betroffener, hat mit seiner Methode festgestellt, daß viele Legastheniker nicht zwischen VORHANDENEN und GEDACHTEN visuellen Stimuli unterscheiden können, d. h., bildgebende Verfahren stellen fest, daß bei der Vorstellung von der Mutter die Areale im Hinterhirn aufleuchten, die eigentlich nur aktiv sein dürften, wenn man die Mutter tatsächlich sieht. Er hat ein sehr erfolgreiches und inzwischen in vielen Ländern populäres Programm entwickelt, mit dessen Hilfe man gegensteuern kann. Das Interessante an den Legasthenikern im Sinne von DAVIS ist, daß sie weit schneller und kreativer denken als „normale“ Menschen, daher der Begriff „Talent-Signal“ im Titel, das ist sehr wohl ernst gemeint. Das Buch enthält einen Test, den Eltern mit dem betroffenen Kind oder anderen Familienmitgliedern (auch Erwachsene können betroffen sein) durchführen können. Das ist eine Teilmenge der „Legastheniker“. Aber es gibt eine andere, denen auf andere Weise geholfen werden muß.
Zweiter Zusammenhang: Akustik
Es ist zwar richtig, daß klassische Legastheniker (sogenannte dys-lexische Kinder) Buchstaben ähnlicher Form („d“, „b“ etc.) schlecht unterscheiden können, aber eben nicht, weil sie die Formen nicht sehen können. Ihr Problem liegt im akustischen Bereich (Jungen hören schlechter als Mädchen, deshalb sind mehr Jungen betroffen). Jetzt beginnt die Sache Sinn zu machen. Sie können den dazugehörigen Klang nicht HÖREN, also nicht unterscheiden zwischen „p“ und „b“, einfach weil diese für sie gleich klingen. Wie wirkt sich das im Alltag aus? Stellen Sie sich vor, Sie müßten tagtäglich irgendwelche Melodien hören und notieren bzw. Melodien
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