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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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er eine ihn schon lange bedrückende Last ab. Es war, als wolle er ganz allein weitergehen, ohne Sünden, ohne Vergangenheit, ja selbst ohne Zeugen.
    Der Erzähler übernahm den Kassettenrekorder und fragte: »Wissen Sie, dass ich seit der Arbeit an meiner ersten Erzählung vor vielen Jahren darüber nachdenke, ein Werk zu schreiben, das ich ›Buch des Lebens‹ nennen kann? Ich verstehe darunter keinen Roman, keine Geschichte im üblichen Wortsinn, sondern einfach ein Buch, dass alles und nichts enthält, Bruchstücke, Querschnitte aus anderen Geschichten, an denen ich gesessen oder nicht gesessen habe. Ein Buch, das hier und überall spielt, ein Buch, das gleichzeitig originell und unoriginell ist, das von den Toten und den Lebenden spricht, ein Buch, in dem sich der Mensch genauso wiedererkennt wie denjenigen, der so lebt wie Sie, nach dem Bild Jussifs, wie Sie es geglaubt haben. Der Mensch soll alles finden, was er verloren, alles, wonach er gesucht hat. Ich weiß nicht, warum ich an dieses Buch denke.
    Ich kannte mal ein Mädchen. Sie schickte mir lange Briefe, geniale Briefe. Sie beschrieb ihren Alltag, jede noch so kleine Einzelheit: die Beziehung zu ihren Eltern und Geschwistern zu Hause, zu den Freunden in der Schule, ihre Streifzüge durch die Stadt. Ich war beeindruckt. Das Mädchen wohnte in derselben Straße wie ich, erzählte aber von Dingen, die auf einem anderen Stern zu geschehen schienen. Eines Tages schrieb sie mir,dass sie meine für sie verfassten Gedichte für Blödsinn hielt. ›Du bist dir im Klaren‹, schrieb sie, ›dass all unsere Anfänge poetisch sind. Du weißt auch, dass sich die meisten Dichter in allem, was sie über Frauen zu Papier bringen, als Angeber und Feiglinge erweisen. Sie haben ein Leben lang keine Frau angefasst, aber in ihrer Impotenz spucken sie große Töne und bei Interviews antworten sie knallhart. Du scheinst ein netter und ehrgeiziger Junge zu sein. Ich liebe dich zwar nicht, aber das ändert nichts daran, dass du ein netter Kerl mit einer glänzenden Zukunft bist – aber nur, wenn du aufhörst, Verse zu schmieden. Glaube nicht, dass die Frauen Dichter lieben. Wundere dich nicht, wenn ich dir sage, dass wir die Abenteurer lieben, selbst als Betrüger und Räuber. Wenn du von den Frauen geliebt werden willst, musst du über sie schreiben. Behalte meine Adresse, um mir das Buch zu schicken, wenn du es beendet hast.‹
    Ich habe diesen Brief, der mein Leben veränderte, aufbewahrt und trage ihn immer bei mir. Ich werde ihn erst wegwerfen, wenn ich das Buch beendet habe. Als man Sie ins Krankenhaus einlieferte, wurde mir klar, dass Sie sich von den anderen Menschen unterscheiden. Ich habe mir gesagt: Dies ist ein Mann mit einer besonderen Geschichte. Ich muss ihm helfen, die Splitter einzusammeln. Und meine Vermutung hat sich bewahrheitet. Eine bessere Geschichte als die Ihre, die alle Geschichten in sich vereint, ist nicht zu finden. Ich glaube nicht, dass die Angelegenheit in erster Linie mit den Frauen zu tun hat, obwohl niemand bestreitet, verliebt zu sein. Es geht jetzt darum, einem Ruf zu folgen, den Sie den ›inneren Ruf‹ oder ›den Ruf aus der Ferne‹ nennen mögen. Er ist wie die Stimme, die Sie zuweilen im Traum besucht. Sie meinten ja, es könnte Ihre eigene Stimme sein, während die schlafende Person jemand anders sei als Sie – oder umgekehrt. Es ist wie das Spiel mit dem Spiegel: Kinder lachen darüber, aber Erwachsene nehmenes ernst. Wie auch immer. Meine Worte mögen seltsam oder schwierig oder unverständlich klingen – das tut mir leid. Die von uns belebte Welt ist schwierig und nicht zu verstehen, eine surreale Welt, die wir täglich erleben. Nichts ist wirklich, alle Geschichten ahmen einander nach, gehen ineinander über. Alle Menschen nehmen andere Persönlichkeiten an. Dennoch bin ich überzeugt, dass man in meinem Alter den anderen Menschen ein bisschen helfen kann, oder wenigstens sich selbst. Vergessen Sie nicht, man wird erst in meinem Alter von den Menschen ernst genommen. Die Menschen gehen davon aus, dass man auf keinen Fall ein Dichter ist, um die Frauen zu überraschen und ihre Bewunderung zu erlangen. Ich werde jedenfalls Ihre Geschichte schreiben, damit die Frauen Sie lieben. Oder damit wenigstens Ihre Frau in Ihre Arme zurückkehrt.«
    Der Erzähler hatte seine Rede beendet und blickte auf Jussif, der den Rest aus seinem Glas trank und dann schwerfällig aufstand.
    »Ich bringe Sie zur Tür.«
    Aber Jussif deutete ihm mit

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