Jussifs Gesichter
warum er die Stimme nicht zuordnen konnte. Begriff er nicht, dass er sie zuvor noch nie gehört hatte? Als das kleine Mädchen nach seinem Körper griff, um ihn gemeinsam mit der sich nähernden Frau aufzuheben, spürte er die zarten Fingerspitzen. Sanft hob sie ihn an, als fürchte sie, ihn zu zerbrechen. Siehst du, wer das Mädchen ist? Vielleicht öffnete er in jenem Moment die Augen, vielleicht murmelten seine Lippen kraftlos eine Frage, die sich im Gewirr der Verfolgerschreie, der Arme und Revolver verlor. Er meinte, die ihn aufhebende weinende Frau rufe seinen Namen.
»Jussif, Jussif, ich bin Sarab! Kannst du mich hören?«
Er verstand es nicht. Erstens war es mühevoll festzustellen, ob die Frau, die zu ihm sprach, Sarab war, seine Frau, oder Mariam, die Frau seines Bruders, mit der er sich auf den Namen Sarab geeinigt hatte. Er wusste nicht, ob er noch lebte oder schon gestorben war. Nur eines war gewiss: Nachdem er der Bar den Rücken gekehrt und seinem Freund, dem Erzähler, in den frühen Morgenstunden, wenige Minuten vor Sonnenaufgang, den Kassettenrekorder überreicht hatte, hatte er von seinemSterbeplatz aus, wo sein erschöpftes, nacktes Gesicht das Gras berührte, eine Frau bemerkt, die zu ihm eilte und an der Hand ein kleines, etwa elf Jahre altes Mädchen hinter sich her zerrte. Die beiden hatten sich neben seinen Kopf gehockt, als wollten sie ihn vor dem Einfall der Sonne schützen. Allerdings war die Sonne gerade durch den Wipfel des dicken, einsam im Garten wachsenden Eukalyptusbaums verdeckt. Für einen Frühlingstag war die Luft ruhig, es war geradezu mucksmäuschenstill. Manchmal vernahm man ein leichtes Schnauben, vermischt mit dem Krähen eines Hahns und abgehacktem Eselsgeschrei, das die anderen Geräusche übertönte, vor allem das zeitweilige Tschilpen der im Laub des Eukalyptusbaums und auf den drei Palmen herumhüpfenden Spatzen. Er erkannte das Haus Stück für Stück, musste nur die Lider ein wenig öffnen, um die Szene vor seinem Geist zu vervollständigen. Da benetzte eine Träne sein Gesicht.
Jussif stellte sich vor: Das kleine Mädchen reibt sich die Augen und blinzelt. Die Benommenheit des Schlafs steckt ihr noch in den Gliedern. Alles um sie herum ist wie betäubt. Selbst die Worte, die an sein Ohr gelangen, klingen verhalten: »Jussif, dies ist deine Tochter. Auch sie heißt Sarab. Und sie wird dich diesmal begleiten!«
»Mariams fünfte Tochter!«
Er wusste nicht, ob ihm diese Worte wirklich aus dem Mund schlüpften. Eine Frage war es nicht, vielmehr eine Feststellung. Er spürte, wie das kleine Mädchen sich ihm zuneigte und ihn streichelte. Im ersten Moment hielt er sie unsinnigerweise für das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt. Dann aber streifte ihr Geruch seine Nase, und ihre Fingerspitzen tasteten über seine Haut. Es war, als wollte sie sichergehen, dass er noch am Leben war, und ihm zu verstehen geben, wie lange sie einander schon kannten. Er beobachtete ihre auf ihn gerichteten Augen,als wolle sie ihm etwas mitteilen. Alles war dunkel um ihn. Vielleicht waren es noch diese eingeschlafenen Zellen und Muskeln, die ihm jede Denkfähigkeit raubten. Oder er drang, wie schon so oft, in einen langen Tunnel ein, an dessen Ende er sich selbst fand: ein namenloses, unpersönliches Phantom.
»Erkennst du mich, Jussif? Ich bin Sarab! Und auch das kleine Mädchen heißt Sarab. Alles ist nur Sarab! Ja, alles ist nur eine Fata Morgana!«
Wieder berührte ihre leicht schläfrige Stimme sein Ohr. Er wollte antworten, aber seine Zunge war zu schwer. Wieder hatte er das Gefühl, sie beuge sich zu ihm herab und streife seine Stirn. Oder bildete er sich das nur ein? Dann schaute die Frau das kleine Mädchen neben sich an. Sie nahm ihre Hand, während eine Träne über ihre Wange lief, die das Mädchen wegwischte.
»Ich werde dir eine Geschichte erzählen.«
In dem Moment kippte Jussifs Kopf in ihren Schoß. Er schloss die Lider mit dem Bild des lauschenden Mädchens, dem Sarab die Geschichte auf ihre Weise erzählte, stundenlang. Schwach konnte Jussif noch ein paar Silben vernehmen, die sie wiederholte: › Kan-ja-ma-kan – Es waren einmal, vor langer, langer Zeit, zwei Brüder.‹«
Jussif beendete die Geschichte mit in sich gekehrten Augen, schluckte und rieb sich den Schweiß von der Stirn. Dann griff er nach dem letzten Glas und wandte sich an den Erzähler: »Dies ist die Geschichte, die Ihnen bis vor kurzem gefehlt
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