Jussifs Gesichter
hat.«
Er fügte hinzu: »Wie hätten Sie wissen sollen, dass so etwas passiert, wenn Sie es nicht von mir gehört hätten?«
Jussif vernahm die Stimme des Erzählers, der ihm die ganze Zeit ernst zugehört hatte: »Es ist eine romantische Art zu sterben. Sie unterscheidet sich von den anderen Todesarten in diesem Land. Es ist, als hätten Sie vergessen, wie die Menschen hier sterben.«
Dann fragte der Erzähler: »Aber sagen Sie, woher wissen Sie, wie Sie sterben werden?«
»Der Zeitungsartikel ist deutlich: Entweder ich kehre in die Anstalt zurück, oder ich werde ermordet.«
»Oder Sie kehren zu Sarab zurück und erzählen ihr die ganze Geschichte.«
Der Erzähler fuhr fort: »Hören Sie mir gut zu: Vergessen Sie Ihren Bruder, vergessen Sie alles und packen Sie Ihre Sachen. Noch können Sie alles in Ordnung bringen. Zu warten hat keinen Sinn, weil Sarab sich mit jedem Tag mehr von Ihnen abwenden kann. Sie müssen zu ihr gehen, und wenn sie Ihnen nicht öffnet, müssen Sie kräftiger an die Tür klopfen. Sie müssen das Haus betreten und laut mit ihr sprechen, damit sie hört, was Sie rufen. Sie müssen sie dazu bringen, sich zu erinnern, wie Sie beide Ihre Tage und Nächte verbrachten. Sie darf nicht vergessen, wie das Echo des Lachens im Haus widerhallt. Vielleicht dreht sie sich dann zu Ihnen um, bittet Sie um eine Zigarette und fordert sie auf: ›Komm, Jussif. Setzen wir uns und reden über die Zerstörung und denken darüber nach, wie wir von vorne anfangen können.‹ Die Zeit ist nicht vergangen. Man kann sie immer wieder neu erschaffen, vor allem wenn es um eine Frau geht. Nicht um irgendeine Frau, sondern um die Frau, die uns den Verstand geraubt hat, um uns bewusst zu machen, dass die Wirklichkeit mit ihr nicht Schritt halten kann, der Frau, für die wir die Sterne vom Himmel holen würden.«
»Es hat keinen Sinn, sie jetzt aufzusuchen«, unterbrach Jussif, als wolle er das Thema wechseln. »Vermutlich schläft sie gerade. Ich möchte sie nicht mit dem Lärm meiner Schritte oder dem Öffnen der Haustür wecken. Sie würde mich nicht um eine Zigarette bitten; sie würde nicht einmal bemerken, dass ich das Haus betrete, weil sie schläft und ich sie nicht wecken möchte. Ich liebe sie, und ich darf keinen einzigen Augenblicklang vergessen, wie viel sie schon durchlitten hat und wie sehr ihr dies gerade noch gefehlt hat – zu wissen, wer das kleine Mädchen ist, das bei ihr lebt.«
»Sarab kennt alle Ihre Geschichten, auch die erfundenen«, ergänzte der Erzähler. »Deshalb hat sie sich ja bereit erklärt, das kleine, von ihrem Bruder ins Haus gebrachte Mädchen bei sich aufzunehmen. Lebt sie nicht mit ihr, als sei sie Ihre gemeinsame Tochter?«
»Sie wollen eine neue Geschichte erfinden«, antwortete Jussif mit trauriger, gebrochener Stimme. »Ich bitte Sie: ab jetzt keine neuen Geschichten mehr.«
»Wie Sie wollen. Ich überlasse es diesmal Ihnen, die Geschichte zu Ende zu führen. Vielleicht erzählen Sie sie zu einer anderen Gelegenheit.«
Energisch fügte er hinzu: »Aber die Zeit ist auch reif, dass Sie zu Sarab zurückkehren und die Geschichte mit Ihrem Bruder vergessen.«
Es war halb vier oder später. Er trank seinen letzten Schluck. Es ist die Stunde ihres Tiefschlafs, dachte er. Sie wird nicht aufwachen, wenn ich das Haus betrete.
Jäh wandte er sich dem Erzähler zu, als hätte ihn eine Erinnerung durchzuckt. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich muss zu ihr! Vielleicht muss ich all das tun, was Sie für mich erfunden haben, und sei es, meinen Bruder einen einzigen Tag lang zu vergessen.«
»Sie kennen ja die Adresse«, ergänzte der Erzähler. »Ich muss Ihnen den Weg nicht beschreiben.«
Jussif lächelte und meinte zum ersten Mal Ruhe zu empfinden. Er betrachtete den Erzähler, als ließe er eine große Tat zu. »Ich habe darauf gewartet, dass jemand mir das sagt. Warum haben Sie so lange damit gewartet?«
»Ich war immer bei Ihnen«, erwiderte der Erzähler. »Aber Sie haben stets den aramäischen Spruch wiederholt: Fragen Sienie einen Ortskundigen nach dem Weg. Er wird Ihnen den Genuss am Verirrtsein vergällen.«
Jussif blickte ihn an, als verstände er nicht, was er meinte. »Auf jeden Fall: Wer von uns hat sein Gedächtnis noch nicht verloren? Am Ende sind wir alle Verlorene auf Bewährung.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er schnell fort: »Nehmen Sie den Kassettenrekorder und machen Sie mit der Geschichte, was Sie wollen.«
Er sprach diese Worte aus, als werfe
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