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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Sindschar gekauft, als er einem mobilen Artilleriebeobachtungsregiment angehörte, das damals – entsprechend dem gerade stattfindenden Stellungswechsel der aufständischen Kurden – in den Norden des Landes verlegt wurde. In diesem Koffer hatte er seine Habseligkeiten verstaut: ein kleines Handtuch, Hemd und Hose, zwei Paar Socken, zwei Unterhosen und die CD mit dem Lied »We never reached Georgia«, das er nicht hören konnte, weil er keinen CD-Spieler besaß.
    Er machte sich allein auf den Weg, auf der Suche nach seinem Widersacher. Er musste ihn finden. Vielleicht würde ihn die Stimme dann nicht mehr belästigen, und er würde zur Ruhe kommen.
    Er hob die Kerze auf und ging zurück in den Salon, wo er sie wieder auf den kleinen Tisch stellte. Anschließend nahm er das Foto von Sarab und sich von der Wand und legte es in den Koffer. Dann holte er den Parker -Füllfederhalter, den Sarab ihm zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte, aus der Tasche und schrieb auf ein Stück Papier: Das Ende der Welt ist da, auf jeden Fall. Ich muss weggehen, um Beweise zu sammeln, die meine Unschuld belegen. Ich muss es allein tun, dagegen gibt es keinen Widerspruch . Ich bitte dich, nicht nach mir zu suchen . Er löschte die Kerze und ging leise und behutsam zur Tür, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Nachdem er sie hinter sich geschlossen hatte, trat er auf die Straße hinaus.
    Es war sehr früh am Morgen, und die Straßen waren menschenleer. Die Stunde war gefüllt mit Angst, als der Asphalt von Jussifs Schritten widerhallte. Er hatte das Gefühl, für immer das Haus zu verlassen, in dem er viele Jahre verbracht und der sanft und aufmerksam lauschenden Sarab die verschiedenstenGeschichten erzählt hatte. Auch sein Bruder hatte den wichtigsten Teil seines Lebens hier gelebt. Dort ließ er Sarab jetzt mutterseelenallein zurück. Als die Stunde des Morgengrauens nahte, erkannte Jussif, dass dieser kleine, handliche Überlebenskoffer ihm helfen könnte, nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Zukunft zu gestalten. Er wollte anfangen, von einem neuen Punkt aus sein Leben zu ändern. Er würde bei dem Haus, das er vor vielen Jahren verlassen hatte, anfangen. Er wollte den Laden seines Freundes aufsuchen, des Fälschers Josef Karmali oder Josef K., wie der sich lieber nannte, von dem er gar nicht wusste, was aus ihm geworden war. Er wollte das Haus von Sarabs Familie aufsuchen, wo sie zu Beginn ihrer Ehe gelebt hatten. Er wollte in das Leichenschauhaus oder in das Vermisstenbüro gehen, um nach der Leiche seines Bruders zu suchen. Und falls er von ihm nichts fände, würde er nach seinem Namen fragen: Jussif Mani. Vielleicht würde eine Spur von ihm zu dem anderen führen, in die geheime Bar, die Mekka-Bar. Dort würde er seinen Gefährten am nächtlichen Tisch der Hoffnungslosen nach langer Zeit alles offenbaren, was er ihnen bis jetzt nicht erzählt hatte, all die Geschichten, die sie vielleicht schon längst vergessen hatten. Er würde dort nach seinem Freund, dem Geschichtenerzähler Harun Wali suchen, der ihm zu Beginn seiner Ehe mit Sarab seinen Namen geschenkt hatte: »Nimm ihn. Hast du nicht gesagt, dass du über die Leute hier eine Geschichte schreiben willst?« Ja, er musste sich so verhalten, als würde er eine Untersuchung durchführen, wie jemand, der morgen sterben wird.

Zweites Kapitel
    Auf der Suche nach dem Widersacher: ein Spaziergang
    durch die Geisterstadt – Bagdad
     
    Zum ersten Mal trat er auf die Straße hinaus, als die Dunkelheit noch Straßen, Häuser und alle Gegenstände der Stadt wie ein pechschwarzer Teppich bedeckte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren besaß er den Mut, zu so später Stunde allein durch die Straßen zu streifen. Sie lagen vor ihm wie in den Zeiten der Ausgangssperre, die die Stadt noch vor kurzem erlebt hatte. Er wanderte allein, als wollte er sich im Gehen seiner angenommenen Namen entledigen und wieder seinen alten Namen annehmen: Jussif Mani, von dem er nie gedacht hätte, dass er ihn eines Tages noch einmal tragen würde. Wie sehr hatte er ihn seit dem Tod des Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt gehasst! Jetzt aber schien es so, als nehme er ihn um Sarabs willen erneut an. Er wollte dem Betrug ein Ende machen und ihr bei der nächsten Begegnung sagen können: Wir beginnen von vorn, diesmal nicht belastet durch eine schwere Vergangenheit.
    Er wanderte allein, als sei er nicht zu einem Treffen mit seinem Widersacher unterwegs,

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