Jussifs Gesichter
über das Schicksal ihrer Toten wissen, sondern dass sie nicht vergessen wollen. Ich bin hier, um sie alle zum Vergessen zu ermutigen. Ich werde zunächst die Namen der Toten zusammenstellen, und dann werden der Herr Oberstleutnant und ich in den letzten heiligen Krieg ziehen: in die Schlacht gegen das Vergessen.«
Plötzlich hatte er ein Kästchen in der Hand und hielt es Jussif unter die Nase, öffnete es und schloss es ebenso schnell wieder. Jussif konnte gerade noch ein kleines Gerät erkennen, das wie ein Transistorradio aussah. Daneben lagen zwei Fetzen, die wie getrocknetes Schuhleder aussahen. Der junge Mann klopfte auf das Kästchen und sagte: »Ich glaube, Oberstleutnant Salih hat den Kern des Problems erfasst. Der Fußballer, der einen Elfmeter vergibt, wird sein Leben lang nicht vergessen können, dass er den Ball an den Pfosten gesetzt hat. An diesen Pfosten wird er sich sein Leben lang erinnern. Der einsame Mann, der zu Hause sitzen gelassen wird, wird die Worte, mit denen seine Frau ihn verließ, nicht mehr vergessen. Der fahnenflüchtige Soldat mit den abgeschnittenen Ohren wird sich an seine Ohren erinnern. Und ein junges Mädchen wird ihre Vergewaltigung ein Leben nicht mehr vergessen. Das Kind, das in die Augen des Mörders seines Vaters geblickt hat, begegnet der Farbe dieser Augen, wohin auch immer es blickt. Und das Opfer der Folter kann die Worte nicht mehr vergessen, mit denen es den Folterknecht um Gnade angefleht hat. Sie allesagen immer und immer wieder: Ich erinnere mich an das, was ich vergessen will, und ich vergesse das, woran ich mich erinnern will.«
»Die Menschheit ist untauglich für jede Rettung«, fügte der Oberstleutnant spöttisch hinzu.
Der junge Mann schenkte diesen Worten keine Beachtung und setzte seine Rede fort. Dabei klopfte er weiterhin auf das Kästchen. »Möchten Sie auch etwas vergessen, mein Herr, etwas Böses, das Sie von anderen erlitten haben?«, fragte er Jussif.
»Diesmal irren Sie sich, mein Sohn«, mischte sich der Dicke ein. »Er muss sich erinnern! Dieser Herr hier hat schon genug vergessen. Das steht ihm ins Gesicht geschrieben. Jetzt ist die Zeit gekommen, sich zu erinnern.«
Der junge Mann nahm wieder das Wort auf. Aber Jussif wusste nicht, ob sich seine Antwort auf die Worte des Oberstleutnants oder seinen vorherigen Satz bezog: »Ich habe die Lösung. Ich werde Sie mit Hilfe dieses kleinen Apparats retten. Schon seit Jahren verwende ich ihn heimlich. Er hilft den Menschen bei der Heilung von ihrer Krankheit. Dieser Apparat löscht den Teil des Gedächtnisses, der die unglücklichen Erinnerungen enthält.«
»Was ist, wenn das Gegenteil passiert und der Teil gelöscht wird, der die guten, die glücklichen Erinnerungen enthält?«, unterbrach ihn der Dicke.
Der junge Mann warf ihm einen abschätzigen Blick zu: »Verdächtigen Sie mich des Verrats? Wie sollte ich das denn machen? Ich will nur das Glück und die Zufriedenheit meines Volkes!«
Dann wandte er sich an Jussif. »Ich bin eigentlich Tierpfleger. Früher habe ich den Tieren die Spritze verpasst. Die Operation gelingt hundertprozentig, das weiß ich aus Erfahrung. Wenn es mit dieser Operation gelingt, die süßen von denbitteren Erinnerungen zu trennen, dann kann die gesamte Menschheit gut schlafen. Das Gehirn verwandelt sich in eine leere, weiße Struktur. Wann immer unglückliche Erinnerungen Zugang suchen, sendet dieses Gerät im Sekundentakt Schläge aus ... leichte elektrische Schläge, bis man ermattet und problemlos einschläft. Mit dem Ende der Erinnerungen endet nämlich auch der Schmerz.«
Er zögerte einen Moment. »Stimmen Sie mir zu?«, fragte er Jussif dann. »Keine Erinnerungen, kein Schmerz.«
Er half dem Dicken aufzustehen. »Bitte, Oberstleutnant Salih. Wir müssen unseren Kameraden hier überzeugen, mit uns in den Kampf zu ziehen.«
Der Dicke hatte sich erhoben, und Jussif bemerkte, dass auch er ein Kästchen bei sich trug. Er verbarg es unter seiner Dischdascha , an die es mit einer Schnur befestigt war. Aber es war größer als das Kästchen der anderen. Er konnte auch flüchtig die darauf geschriebenen Worte lesen: Kästchen für abgeschnittene Ohren.
Der Dicke sah Jussif an. »Wenn wir uns so verhielten wie die Japaner nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg, würden wir jetzt Selbstmord begehen. Aber wir sind Muslime. Religion und Führer erlauben es nicht. Deshalb richten wir lieber Schaden an, indem wir den Besiegten die Ohren abschneiden. Aber machen Sie
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