Jussifs Gesichter
doch selbst, dass es Tausende Männer mit diesem Namen gibt.«
»Sie wollen mir also auch nicht glauben.«
Der Mann wandte sich den beiden Jungen zu. »Warum habt ihr aufgehört, mit der Pappe zu fächeln?«
Der Junge, der mit dem Anwerfen des Generators beschäftigt war, sagte: »Wenn der Strom fließt, funktioniert auch der Ventilator wieder.«
Der Angestellte stand auf, drehte den Stromschalter, und der Ventilator begann zu kreisen. Er schaute Jussif nochmals prüfend an, dann schlug er sich mit der Hand vor die Stirn. »Jetzt erinnere ich mich!«, rief er, als würde es ihm wie Schuppen von den Augen fallen. »Vor einer Woche kam ein Mann,der genauso aussah wie Sie! Er muss einen gewissen Einfluss in der neuen Regierung haben. Er holte eine Leiche ab und unterschrieb ziemlich schnell die Sterbepapiere. Er sagte, er würde sie selbst zum Friedhof bringen, zum Abu-Ghraib -Friedhof, und murmelte auch etwas wie ›Der Arme, jetzt ist er dahin. Er hatte nur eine alte Tante, die mit ihm in Kadhimija wohnte. Sie wird vor Kummer sterben, wenn ich ihr die Nachricht überbringe.‹«
Jussif brütete eine Weile vor sich hin. Bevor er etwas äußern konnte, fuhr der Angestellte fort: »Seltsam. Anscheinend wollen auch Sie mir nicht glauben. Sie haben die Leiche gefunden, aber Sie wollen wiederkommen, genau wie die anderen. Sie haben ein Bild im Kopf. Das Bild des Toten unterscheidet sich in nichts von den Bildern der anderen. Ich habe es Ihnen doch gesagt: Alles ist ansteckend. Also auch Sie! Erst sagte ich mir: Sie sind anders. Sie scheinen kultivierter zu sein als die anderen. Sie kommen doch sicher nicht aus dem Irrenhaus? Aber – es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen – ich muss Sie bitten, sich in Acht zu nehmen. Alles ist ansteckend, sogar der Wahnsinn. Der Virus – ich meine den tödlichen einheimischen Virus – ist stärker als alle Massenvernichtungswaffen.«
Er hielt einen Moment inne. »Sagen Sie mal«, fuhr er fort, »nun sagen Sie mal: Hat man sie gefunden? Ich meine die Massenvernichtungswaffen?«
Jussif antwortete nicht, sondern begann vorsichtig wegzuschleichen. Er hörte den Angestellten weiterreden, wusste aber nicht, ob die Worte ihm oder den beiden Jungen mit den Pappwedeln galten. Auch diese waren dabei, sich davonzustehlen, nachdem der Generator lief und damit ihre Tätigkeit überflüssig war. Bevor Jussif die Gebäudetür aufstieß, um den Korridor zu verlassen, hörte er die Jungen, als seien sie hinter ihm hergelaufen, mit keuchender Stimme rufen: »Glauben Sie die Geschichte mit dem Friedhof nicht! Die erzählt er allen.«
Doch bevor Jussif sie irgendetwas fragen konnte, wandten sie sich anderen Leuten zu, denen sie ihre Fächeldienste anboten.
Der Mann hat wohl recht, dachte Jussif. Wie die Luft, die durch das Fächeln mit der Pappe in Bewegung geriet, förderte alles die Ansteckung. Wer etwas erzählte, tat dasselbe. Der Erzähler steckte mit seinen Geschichten den Zuhörer an. Dadurch konnte man sich von allem überzeugen lassen: davon, dass es für alles eine Entschuldigung und einen vernünftigen Grund gab. Dies galt insbesondere für Menschen, die auf eine sentimentale Weise erzählten, die wechselseitig Begeisterung oder Traurigkeit auslösten, wie es der Dicke und der junge Mann vorgemacht hatten. Wie viele Geschichten hörte man jeden Tag, vor allem wenn man, wie Jussif, aufmerksam zuhörte! Die Luft war voll von Geschichten. Man musste sie nur ordnen, wie ein Bibliothekar Bücher in den Regalen ordnet: Buch auf Buch, Buch neben Buch, Geschichte neben Geschichte. Doch welche Geschichte musste man glauben, welcher misstrauen?
Sollte alles, was Jussif in den sechsundvierzig Jahren seines Lebens erzählt hatte, erstunken und erlogen gewesen sein? Hatten auch der Dicke und der Dünne nur Märchen zum Besten gegeben? Wenn man etwas verfälschen will, braucht man zunächst etwas Ursprüngliches, einen Kern der Wahrheit, auf den man aufbauen kann. Josef Karmali oder Josef K. behauptete das Gegenteil. Er meinte, dass man nicht das als »gefälschtes Papier« bezeichnet, was von ihm als »Personalausweis« ausgestellt wird. Für ihn traf das Gegenteil zu: Er hielt seine Papiere für echt, dagegen die vom Staat ausgestellten für gefälscht. Dies erklärte er Jussif, als dieser ihn zum ersten Mal auf Anraten von Onkel ‘Assim aufsuchte und ihn bat, ihm einen neuen Personalausweis anzufertigen.
Fälschung oder Wirklichkeit, Lüge oder Wahrheit, Erfindung oder Entdeckung,
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