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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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bestehenden Großverband endete mit achthundert Toten. Doch der Rest hielt stand und konnte die feindliche Infanterie abwehren, drei Tage lang, bis unsere geliebte Hauptstadt dann doch noch fiel. Der Feind hatte die Gefechte mit meinen Soldaten,die an allen Fronten im Einsatz waren, ständig gefürchtet. Nur unter dem Schutz ihrer Luftwaffe fassten die feindlichen Truppen den Mut, mit uns den Kampf aufzunehmen. In den letzten zwei Tagen sind auf dem Schlachtfeld noch einmal an die tausend meiner Soldaten gefallen. Dann befahl unsere Führung, die Truppen wieder auf Stellungen an der Nordgrenze des Landes zurückzunehmen. Warum? Nur Gott und der Führer wissen es. Gott erschuf uns und machte sich aus dem Staub. Der Führer stürzte uns in Unannehmlichkeiten und blieb. Er rief: ›Kommt zurück!‹ Und wir antworteten: ›Wir gehören dem Herrn, der uns erschuf, und zu Ihm kehren wir zurück.‹ Und wir kehrten zurück, erlitten aber unterwegs noch einmal einen Luftangriff. Mehr als die Hälfte der verbleibenden Truppen floh und warf die Uniformen weg. In Zivilkleidern versteckten sich die Fahnenflüchtigen in ihren Häusern und Wohnungen, um Ehre, Frauen und Kinder zu retten. Auch mich überwältigte ein starker Überlebensinstinkt, der jegliche Militärdisziplin in mir vernichtete.«
    Der junge Mann sagte tröstend: »Ich werde Sie alles vergessen lassen. Sie müssen sich nur ein wenig gedulden. Ich werde Sie darauf vorbereiten zu vergessen.«
    Der Mann wischte sich mit dem Hemdärmel den Rotz von der Nase und setzte seine Rede fort, ohne auf die Worte seines Kameraden einzugehen.
    »Als unsere geliebte Hauptstadt, unsere schöne Hauptstadt, unser eigenes Fleisch und Blut, endgültig fiel, traf uns das wie ein Schlag. Die Schlacht ist vorbei, sagte ich mir. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Ich forderte meine heldenhaften Soldaten und meine tapferen Offiziere auf, nach Hause zu gehen, ihre Ehre zu bewahren und ihre Frauen nicht allein zu lassen. Von diesem Tag an war es einerlei, ob das Land verloren war oder nicht. Aber es war eine Schande, die Möse verloren zu geben. Alles ist einfach vor der Ehre, sagte der Prophet,Gott segne ihn. ›Die Ehre, die Ehre und wieder die Ehre‹, sagte der Gefährte des Propheten, ’Uthman bin Abi ’Affan, Gott segne ihn. Die Möse, die Möse und wieder die Möse. Ich weiß noch, wie mich damals die Schande traf, als ich meinen aus dem Süden stammenden Fahrer bat, mich nach Hause in Hawija zu bringen. Wie nannte mich dieser Schruki aus dem Süden? Einen Feigling? Erst als ich die Wohnung betrat, zog ich meine Uniform aus und ging ins Schlafzimmer. Ich blieb sieben Tage in der Wohnung, so tief saß der Schock über alles, was geschehen war.«
    Er schwieg. Der junge Mann mit den abgeschnittenen Ohren strich ihm zärtlich über die Schultern und sagte: »Sorgen Sie sich nicht. Sie werden die Geschichte Ihrer Folter vergessen.«
    »Danke, ’Ali«, sagte der Dicke. Sie sind ein gehorsamer Soldat. Ich weiß.«
    Dann wandte er sich Jussif zu. »Immer gehorsam. Ein Löwe. Obwohl er ein Schruki ist. Stellen Sie sich die Woche vor, die ich im Schlafzimmer verbracht habe. Wann immer ich meine Frau begehrte, musste ich an ihn denken, noch bevor mein Schwanz sich aufrichtete oder ich versagte. Ich frage Sie: Was soll ich über mich sagen, was soll geschehen? Als ich das Haus wieder verließ, saß er genau so da, wie ich ihn zurückgelassen hatte – im Jeep vor der Haustür. Er hatte sieben Tage auf mich gewartet, nur um mir zu sagen: ›Lass uns nach Bagdad fahren und den Feind bekämpfen!‹ Und Sie sehen: Wir sind da. Alle unsere Soldaten. Die anderen finden Sie im Leichenschauhaus. Wir werden die Freiwilligen unter ihnen registrieren. Und was ist mit Ihnen, Jussif? Wie es aussieht, sind Sie gekommen, um wichtige Aufgaben zu übernehmen. Sagen Sie mir nicht, Sie wollen desertieren!«
    Bevor Jussif sich dazu äußern konnte, ergriff der junge Mann mit den abgeschnittenen Ohren das Wort.
    »Lassen Sie ihn, Herr Oberstleutnant. Alles zu seiner Zeit. Auch er wird an die Reihe kommen und die Geschichte erfahren. Wenn er weiß, wer der Henker und wer das Opfer ist, wird es zu spät sein, und er wird sich entschließen, für immer hierzubleiben, im Leichenschauhaus.«
    Dann setzte er seine Rede fort, als seien ihm die Worte des Dicken gleichgültig: »Alle, die hier sind, wollen sich der Namen ihrer Toten vergewissern. Seit Jahren besteht für manche das Problem nicht darin, dass sie nichts

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