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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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sich keine Sorgen. Wir werden siegen, und die Schlacht wird weitergehen. Die Ohren sind eine Last, die uns auf dem Weg in die heilige Schlacht behindert.«
    Auch der junge Mann wandte sich abrupt an Jussif. »Ich rate Ihnen, von hier wegzugehen! Sonst kann es passieren, dass Sie hier jahrelang festsitzen. Unbekannte Leichen werden einfach in die Mülltonne geworfen. Andernfalls werden ihre Angehörigen benachrichtigt. Erinnern Sie sich: Alles, wovor Sie fliehen, wird Sie verfolgen, solange Sie leben.«
    Jussif hatte keine Ahnung, was der junge Mann meinte. Aber während dieser seinen Kameraden wegzog, um hinauszugehen, hörte Jussif ihn weiterreden.
    »Erinnern Sie sich meiner Worte. Bevor Sie sich erinnern, müssen Sie vergessen. Und bevor Sie vergessen, müssen Sie sich erinnern. Dieses Problem kann niemand lösen. Gott hat uns geschaffen und ist nach China ausgewandert. Selbst die kostenlosen Irakpillen sind ausgegangen, und niemand verträgt mehr Aspirin. Und wenn Sie uns brauchen, werden Sie uns in der Bar finden, in der Bar ... Sie wissen doch ... Sie kennen doch ihren Namen ... es wird Ihre letzte Gelegenheit sein, um ...«
    Der junge Mann konnte seinen Satz nicht beenden, weil sein Begleiter mit lauter Stimme rief: »Wer hat Erinnerungen zu verkaufen?«
    Jussif erinnerte sich an einen ähnlichen Satz, der vor langer Zeit in den Gassen widerhallte, als die Hausfrauen den Hausierern Flaschen zum Verkauf anboten. Diese wollten sie später an die Krankenhäuser verscherbeln, damit die Krankenhauspatienten sie mit Arzneimitteln füllten.
    Wo hatte Jussif die beiden Gesichter schon einmal gesehen? Sie behaupteten ja, aus dem Irrenhaus zu kommen. Waren sie ihm die ganze Zeit gefolgt? Und von welcher Bar redeten sie? Warum erinnerten sie sich an die Geschichte der Folter, an die Geschichte vom Henker und seinem Opfer? Er sah sie aus dem Korridor verschwinden, als wollten sie sich selbst beseitigen und ihm die erste Lektion des Tages erteilen: Keine Erinnerung, kein Schmerz! Um sie zu vergessen! Aber würde er sich an die Menschenmenge dort erinnern? Und an sich selbst? Wann konnte man zu sich selbst sagen: »Ich erinnere mich«? Wann konnte man wiederum zu sich sagen: »Ich vergesse«? Als er im Korridor des Leichenschauhauses stand, in diesem riesigen Krankenhaus, in der »Medizinstadt«, in der Stadt Bagdad –erinnerte er sich da oder vergaß er? Erinnerte er sich vielleicht, dass er vergaß? Erinnerte er sich oder vergaß er als Jussif oder als der andere, als der, aus dem Jussif gemacht war? Und was war mit der Leiche, von der er annahm, dass sie dort lag? War es die Leiche seines Bruders oder seine eigene? Oder gar die Leiche eines dritten, der nur Jussif hieß? Jussif hatte seine Sinneswahrnehmungen noch nicht verloren. Er konnte noch hören und riechen, sehen, schmecken und fühlen. Aber was hörte, roch, sah, schmeckte, fühlte er? Wenn er um sich blickte und sich vergegenwärtigte, was er in all diesen Jahren bis zu diesem Augenblick erlebt und gemacht hatte, gelangte er zu einer unausweichlichen Überzeugung: Er hörte nichts anderes als die Stimmen der Toten. Er roch die verwesenden Leichen, das verbrannte Fleisch. Er atmete die durch Gas und Senfgas verpestete Luft. Er schmeckte die bitteren Speisen, die den Tod an Bitterkeit übertrafen. Er fühlte die Körper der Sterbenden, der Leichen, die ihm den Weg versperrten – nicht nur an diesem Tag in der Zentrale der Gerichtsmedizin, sondern in allen Behörden, in denen er gearbeitet hatte, in Bagdad und in anderen Städten. Die Einsamkeit verfolgte ihn. Nie fühlte er den Tod weit entfernt, im Gegenteil. Und jetzt? Was sollte er jetzt machen? Dem Tod entgegentreten?
    Als Jussif Lärm und Geschrei hörte, schreckte er aus seinem Halbschlaf auf. Er blickte sich um und bemerkte einen Mann mit dunkler Sonnenbrille. In der einen Hand hatte er ein paar Umschläge, in der anderen eine Plastiktüte, auf der eine Werbung für Marlboro-Zigaretten zu sehen war. Er sah, wie der Dicke und der Blasse ihm in einigem Abstand folgten. Der Angestellte schien es eilig zu haben. Vielleicht war er auf der Flucht vor drei Jungen, die ihm dicht auf den Fersen waren. Zwei von ihnen gehörten zu den Kindern, die mit einem Stück Pappe im Korridor des Krankenhauses gesessen hatten. Der Dritte schleppte einen Generator mit sich herum. Die zwei mitder Pappe stürzten zu dem Angestellten, einer vor ihn, der andere hinter ihn, und wedelten mit ihrer Pappe wie mit einem Fächer. Der

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