Jussifs Gesichter
seiner Verrücktheit und Geistesklarheit.
»Junis, komm! Zeig dich deiner Tante, nachdem du so lange weg warst! Kommst du aus dem Gefängnis oder dem Krankenhaus? Oder haben sie dich aus der Armee entlassen?«, fragte die Tante mehrmals, als wolle sie jeden Zweifel zerstreuen.
Dann rief sie lachend: »Oder soll ich dich Jussif nennen? Ganz wie du willst, mein Sohn. Macht keinen Unterschied. So wärt ihr beide wieder hier!«
Sie strich kurz über ihr Haar und fuhr – die Zigarette in der Linken, das Glas in der Rechten –, ohne ihn anzusehen, fort: »Die Welt ist merkwürdig, mein Schatz.«
Diese Worte klangen wie der Teil eines Gesprächs, das sie vor Stunden, am vorigen Abend vielleicht, begonnen hatte. Es war, als sei er nicht jahrelang verschwunden gewesen.
»Die Welt ist voller Wunder. Heute Morgen zum Beispiel schreckte mich ein seltsamer Traum aus dem Schlaf auf. Ich bestieg mit deiner Mutter, deinem Bruder, Mariam und den Mädchen ein Schiff. Das Wasser war rein, klar und kalt, um uns herum Berge und Täler. Und die Sonne, die Sonne, mein Schatz, du weißt schon: In manchen seltsamen Träumen geht die Sonne auf und treibt ihre Spielchen mit dem Wasser, während die Luft ganz mild ist. Da vernehmen wir auf dem Schiff plötzlich von weit, weit her eine Stimme. Sie kommt vom Himmel und ruft: ›Es ist alles in Ordnung!‹ In Wirklichkeit ist es Englisch, was wir hören, und du übersetzt die Worte: Es ist alles in Ordnung. Was blieb, war das Gesicht des Allmächtigen. Ihr müsst unbedingt die Jussif-Sure lesen.«
Sie hielt kurz inne und begann dann, einen Vers aus der Jussif-Sure zu zitieren:
»Erzählen wollen wir dir die schönste der Geschichten. Vorher wusstest du nichts. Jussif sagte zu seinem Vater: ›Vater! Ich habe elf Sterne und die Sonne und den Mond gesehen. Ich sah sie vor mir niederfallen.‹ Da antwortete sein Vater: ›Mein Sohn! Erzähle deine Traumgesichte nicht deinen Brüdern, sonst werden sie eine List gegen dich anwenden! Der Satan ist des Menschen Feind. Aber dein Herr wird dich erwählen. Und er wird dich lehren, Geschichten zu deuten, und seine Gnade an dir und an der Sippe Jakobs vollziehen, so wie er sie früher an deinenVorvätern Abraham und Isaak vollzogen hat. Dein Herr ist wissend und weise.‹ In der Geschichte von Jussif und seinen Brüdern lagen Zeichen für diejenigen, die fragen.« 1
1 Koran, Sure 12 (»Jussif«), Vers 3–7
»Wahrheit des erhabenen Gottes«, fügte sie hinzu und rieb ihr Gesicht mit der Innenfläche ihrer Hand.
»Ich schreckte aus dem Traum auf und sagte zu mir: ›Oh Gott, bete für Muhammad und seine Sippe!‹ Bei mir dachte ich: ›Die Welt ist merkwürdig. Wer wird den Traum bezeugen? Wer wird bezeugen, dass sich alles wirklich ereignet hat, dass alles in Ordnung ist, außer Jussif selbst?‹ Das Problem, mein Schatz, ist immer, es gibt keine Zeugen für die Träume. Schau mal, kennst du die Fernsehserie, die sie gerade zeigen?«
Jussif blickte zum Bildschirm, aber es fiel ihm schwer zu erkennen, was sich dort abspielte. Er hörte Stimmen, ein scheinbar aus der Tiefe des Hauses emporsteigendes Geflüster, als liefe der Fernseher seit Urzeiten.
»Dies könnte Folge hundert oder noch mehr sein. Immer verbreiten sie Geschichten ohne Zeugen. Heute übertragen sie ein Fußballspiel aus dem Volksstadion. Sag mir: Steht das Volksstadion noch an seinem Platz? Wie auch immer. Von dort übertragen sie das Fußballspiel. Schau es dir an: Die Mannschaften spielen ohne Schiedsrichter, und die Zuschauer klatschen! Gestern habe ich eine herzzerreißende Geschichte gesehen. Ein junger Mann wie du, attraktiv, anständig, etwa in deinem Alter, kehrt nach langer Abwesenheit nach Haus zurück, aus dem Gefängnis, der Kriegsgefangenschaft oder dem Irrenhaus, ich kann mich nicht erinnern. Er weiß, dass seine Frau schwanger ist, sie hat es ihm mitgeteilt. Aber er hat Angst, sie zu fragen, seit wann sie schwanger sei. Sie lassen sich nieder und sehen einen Fernsehfilm. Der Mann sitzt da wie ich und hält seine Frau in den Armen. Sie hat ein Glas in der H and, so wie ich jetzt mein Glas in der Hand halte. Der anständige junge Mann fühlt ihren Bauch und fragt sich, wie sie schwanger werden konnte, wo er doch mehr als ein Jahr fort war. Aber er stellt ihr diese Frage nicht. Stattdessen fragt sie ihn. Ohne sich zu ihm umzuwenden, ohne ihn anzusehen, fragt sie: »Haben sie dich gefoltert? Haben sie dich im Lager gefoltert? Hast du irgendetwas gestanden? Hast du an
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