Jussifs Gesichter
Nur so konnten sie hoffen, dass ihre Söhne nicht im Krieg gefallen waren. Es wäre besser, ihren Tod möglichst unbeteiligt hinzunehmen.
Seine Mutter jedenfalls wollte noch nicht wahrhaben, dass ihr Sohn gefallen war. Sie erweckte den Eindruck, als glaube sie der amtlichen Nachricht. Sie war überzeugt, dass ihr älterer Sohn Junis eines Tages heimkehren würde. Im schlimmsten Fall wäre er in Gefangenschaft geraten, aber er käme nach Hause! Oder er wäre, wie sein kleiner Bruder, aus der Armee desertiert und würde von nun an mal auftauchen, dann wieder verschwinden. Hatte sich seine Mutter nicht ein paar Wochen nach seiner Hochzeit mit Sarab, als er dem Spiel seiner Doppelrolle ein Ende setzen wollte, beklagt, dass sein Bruder zweimal angerufen habe? Beim ersten Mal habe er ihr mitgeteilt, dass er für längere Zeit nicht erreichbar sein würde; beim zweiten Mal habe er von einer noch längeren Abwesenheit wegen wichtiger Aufgaben als Soldat in einer Sondereinheit gesprochen. Aus tiefstem Herzen hoffte sie auf eine baldige Heimkehr, vor allem da auch ihr jüngerer Sohn das Haus verlassen hatte. Damals konnte er die Worte seiner Mutter nicht ernst nehmen, wusste er doch, dass in dem einen Falle er es gewesen war, der – unter dem Namen Junis – angerufen hatte, um sich versteckt zu halten und Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Aber seine Mutter hatte noch ein zweites Telefongespräch erwähnt. Er beschloss also, nur nachts zu kommen.
Als der Krieg endete und Soldateska, Mob und Rebellen die Personalregister von Meldestellen und Wehrersatzämtern im Verlauf der Ereignisse vom März 1991 verbrannten, dachte Jussif, dass auch für ihn eine günstige Gelegenheit gekommen sei, mit der eigenen Vergangenheit abzuschließen. Vielleicht konnte ihm das helfen, die Erinnerung an den Tod des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt zu verdrängen und das Schuldgefühl endlich abzulegen. Mit der Zeit aber merkte er, dass man ihm nur neue Schwierigkeiten bereitete. Es war an der Zeit, sich zu offenbaren.
Sogar Sarab war von dieser Idee angetan. Jussif konnte jedoch nicht einschätzen, ob Onkel ’Assim die Neuigkeit negativ oder positiv aufnahm. Er sagte nur: »Die Zeit der Engel ist vorbei im Land der Siegreichen und der Gedemütigten. Jetzt ist der Teufel an der Reihe.« Jussif wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. Onkel ‘Assims Worte entbehrten nicht der Wahrheit, zudem stand der Schwiegervater gerade am Anfang seiner Besuche in der Nervenheilanstalt. Doch wie auch immer, Jussif selbst war nicht überzeugt, das Richtige zu tun, nicht einmal als er die Ausweispapiere seines Bruders nach einer mit Mariam verbrachten Nacht an sich brachte.
Eines Nachts im Frühjahr 1991 tauchte sein Bruder Junis plötzlich in der geheimen Bar, der Mekka-Bar, auf. Er fragte ihn freundlich, ob er, Jussif, darauf bestehe, seinen Namen, Junis, zu tragen, und ob er imstande sei, sich zu den ihm angelasteten Vergehen zu bekennen, falls die Sache irgendwann einmal ans Licht käme. Jussif begriff damals nicht, was sein Bruder meinte. Sein Bruder wirkte außergewöhnlich müde. Er hätte sich gern länger mit ihm unterhalten und ihn gefragt, wo er die ganze Zeit gesteckt habe und was ihm widerfahren sei. Er hätte auch gern erfahren, ob sein Bruder Verdacht geschöpft habe, was sich zwischen ihm und Mariam abspielte. Denn wenn eres wirklich ahnte, wäre es nicht schwer, mit ihm darüber zu reden. Doch der große Bruder, der so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte keine Lust, sich lange hinzusetzen und machte ihm schnell deutlich, dass er nicht gekommen sei, um seine Rechnungen mit ihm zu begleichen oder ihm Vorwürfe zu machen. Er wolle nur erklären, dass er entschlossen sei, das Land zu verlassen; er habe Vergangenheit und Gegenwart satt. Es mache ihm nichts aus, wenn Jussif seinen Namen, Junis, für immer annehme. Sie verstünden sich eben, wie schon die Jahre zuvor. Ihm, Jussif, scheine es zu genügen, der Engel zu sein, der er war. Er fragte ihn, ob er sich noch an die Spiele ihrer Kindheit erinnere, wie sie ihre Identitäten getauscht hätten. Was sie jetzt vorhätten, würde diese Spiele zu einem Abschluss bringen. Bevor Junis die Bar verließ, sagte er: »Ich war nie wütend auf dich, als ich herausfand, dass du an meiner statt im Ehebett liegst. Wer könnte meinen Töchtern ein besserer Vater sein als du? Aber vergiss nicht: Du musst die Last des Namens tragen, den du ab heute
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