Jussifs Gesichter
mich gedacht? Hast du an uns gedacht? Hast du dir überlegt, wo du in den zwei Jahren gewesen bist? Ich weiß, wie die Folterer keine ... haben. Und jetzt hör mir gut zu, mein Schatz: Sie haben keine Rifqa, keine Rahma, keine Schafaqa und keine Ra’fa, nein, keine Milde, kein Erbarmen, keine Gnade, kein Mitleid! Er schweigt, wie du, Jussif, weil er ein gutes Herz hat, weil er ein guter Junge ist. Er hat Angst, sie zu fragen, welchen Film sie gesehen habe. Unglaublich! Die Welt ist rätselhaft, voller Wunder. Sie haben ein Fußballspiel zwischen zwei Mannschaften im Volksstadion übertragen, ohne Schiedsrichter!«
Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, fuhr sie fort, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
»Jussif, mein Schatz. Ich habe gewusst, dass du heute kommen würdest. Es ist doch nicht möglich, dass sie beide verschwinden, habe ich mir gesagt. Vor einer Woche war dein Bruder Junis hier. Aber ich hatte keinen Appetit, etwas zu essen. Ich sagte: Ich habe dich erwartet. Mein Herz sagte mir: Wenn der große Bruder da ist, dann ist auch der kleine Bruder nicht weit. Der Einkauf, den dein Bruder vor einer Woche mitgebracht hat, liegt noch in der Küche.«
Jussif fragte sich, welch ein Spiel die Tante wohl spielen mochte, wenn sie zwischen den beiden Namen hin und her sprang. Wenn sie wirklich ihn meinte, dann war er nicht vor einer Woche da gewesen, sondern vor sehr langer Zeit. Und er schämte sich, weil er auf dem Weg zu ihr nichts eingekauft hatte. Er wollte ihr schon sagen, dass es nicht zwei Brüder, sondernnur einen gab. Wenn sie abrechnen wollte, auf wessen Seite stand sie dann? Sie musste diesen Irrtum beenden, der schon das Leben ihrer Schwester zerstörte, die ihn mit ins Grab nahm. Genau wie seinem Bruder und ihm, wie Mariam, Sarab und dem Besitzer der warnenden Stimme dieses Morgens und vieler Morgen zuvor, musste ihr klarwerden, dass es im Land der Siegreichen und der Gedemütigten keinen Platz für beide gab: Einer musste verschwinden. Wenn eine Woche zuvor tatsächlich eine Person bei ihr gewesen war, die seinen Namen trug, dann musste es sich um jemand anders handeln. Sein Bruder war tot, und er trug jetzt seinen Namen. Die Sterbepapiere, die er eigenhändig unterschrieben hatte, lauteten auf seinen Namen. Wer konnte vor ihm hier gewesen sein?
»Mein Herz fühlte, dass Jussif heute käme. Weißt du, warum? Heute ist der Tag der Auferstehung. Seit deinem Weggang habe ich bis zum heutigen Tag gehofft, dass du nach Hause kommst. Ich möchte dich sehen und mit dir plaudern, weil du als Einziger ihnen ebenbürtig bist. Schon als Kind hast du in ihrem Namen gesprochen, hast die Stimme des Radioansagers nachgeahmt, wenn er die Nachrichten verlas: Ich bin der offizielle Sprecher in ihrem Namen. Sie alle sind weggegangen, aber du bist geblieben. Dein Bruder wollte sterben. Er hat sich freiwillig zum Militär gemeldet und ist zum Gefreiten befördert worden, der seine Pflicht erfüllen wollte. Es war seine Pflicht, jung zu sterben. Und Mariam, mein Mädchen, warum ist sie verschwunden? Warum hat sie sich mit ihren süßen Töchterchen aus dem Staub gemacht? Hör mir gut zu: Es gibt in diesem Haus keine Rifqa, Rahma, Schafaqa und Ra’fa, nein, keine Milde, Erbarmen, Gnade und Mitleid! Und warum musste deine Mutter an einem Herzinfarkt sterben und mich ganz allein hier zurücklassen? Und wie geht es Sarab, der Frau deines Bruders? Nie bin ich einem so guten Mädchen begegnet! Ich habe gehört, dass sie aus ihrem Haus geflohen ist,als ihr Vater dem Irrsinn verfiel. Stimmt es, dass sie ein Baby erwartet? Jussif, mein Schatz, du bist in ihrem Namen der offizielle Sprecher. Du musst all ihre Geschichten erzählen. Komm zu deiner Tante, gib ihr einen Kuss!«
Jussif ging auf sie zu. Er wollte ihr beichten, dass Sarab seine Frau sei, nicht die Frau seines Bruders, und dass er nichts von ihrer Schwangerschaft wisse. Sein Bruder war tot, und auch seine Mutter hatte ihr Leben nicht durch einen Herzinfarkt verloren, sondern bei einem Raketenangriff. So hatte er es zumindest von Onkel ‘Assim erfahren, den er im Irrenhaus getroffen hatte. Die Herkunft des Raketenabschusses war nicht bekannt. Seine Mutter war mit Onkel ‘Assim im überdachten Markt einkaufen gegangen. Dieser hatte mit ein paar anderen Menschen überlebt. Manche Leute behaupteten immer wieder, dass er an jenem Tag verrückt geworden sei, weil er »einen völligen Gedächtnisschwund erlitten« habe (wie manche Leute immer wieder behaupteten!).
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