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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Schwägerin noch Mariam hieß, ehe auch sie es lernte, sich eine lange Reihe von Decknamen zuzulegen. Es war, als hätten sie eine Absprache miteinander getroffen: Sie nannte ihn Junis, und er nannte sie Sarab. Es war wie ein geheimer Code zwischen ihnen, ungeachtet der später verkündeten Namen. »Es kann sein, dass wir uns eines Tages aus den Augen verlieren, dass einer von uns untertauchen muss. Wenn du dann den Namen Junis hörst,weißt du, wer gemeint ist, und umgekehrt«, sagte er ihr eines Nachts. Aber er konnte sich nicht erinnern, in welcher Namensphase sie sich gerade befanden.
    Ihr Spiel mit den Namen war mehr als eine bloße Kinderei. Sie beruhigten damit ihre Seelen und überzeugten sich gegenseitig, dass sie das Richtige taten und einander nie betrügen würden. Doch was sie damit erreichten, war eine Farce, die da heißt: das Land oder das Leben. Im Land der Siegreichen und der Gedemütigten, wie es Josef Karmali oder Josef K. nannte, konnte es sich gar nicht anders verhalten. Sie waren nicht die Einzigen, die ihre Rollen vollkommen beherrschten. Alle anderen waren daran beteiligt: seine Mutter, seine Tante, Sarab, Onkel ‘Assim. Er erinnerte sich daran, wie ihm damals immer klarer wurde, dass sie alle sich damit abfinden mussten, dass sein Bruder gefallen und nicht vermisst sei. Es war nutzlos, nicht mehr seinen Bruder vortäuschen zu wollen. Gegen eine Lüge war nichts einzuwenden, wenn sie den Weg zum Glück wies. Es war jene Phase, in der eine halbe Flasche Arrak noch genügte, in der er wusste, dass er nicht mehr nur eine Rolle – sich selbst – spielen konnte. Überschritte er diese Menge an Arrak und begänne er, tatsächlich eine ganze Flasche zu trinken, müsste er dieses Spielen einer Doppelrolle ununterbrochen fortsetzen. Dann könnte er nicht mehr nur eine einzige Person darstellen, es würden mindestens zwei nötig werden.
    An vielen Tagen bewegte er sich, als sei er nicht von dieser Welt, als sei er kein Lebewesen aus Fleisch und Blut, das endlose Straßen und Gassen durchstreifte, Gräben und Sümpfe durchquerte. Er legte einen weiten, weiten Weg zurück, ohne zu wissen, wohin ihn die Füße trugen. Er bemerkte nicht, was um ihn herum vorging, als hätte er eine Mauer um sich herum errichtet. Als er in einer der Bars der Unterwelt saß, in der geheimen Bar, seiner Lieblingsbar, der Mekka-Bar, der Bar der Geschichten und inneren Monologe, dachte er über den Unterschiedzwischen sich und Mariam nach. Sie hing nicht nur einfach dem Wunschtraum nach, sondern war sich sicher, dass sich morgen oder übermorgen etwas Gutes ereignen würde. Vielleicht käme sein Bruder zurück, genau wie er. Dann würde auch alles andere wieder ins Lot kommen, und die Verhältnisse im Land, das ganze Leben würden sich zum Besseren wenden. Sie hatte Pläne, bestimmte Überzeugungen, für sich selbst und für ihre vier Töchter. Irgendwie beneidete er sie darum, denn er selber konnte an nichts mehr glauben. Alle seine Gedanken, alle seine Pläne lösten sich in Luft auf. Der Krieg zerfetzte sie in seiner Maschinerie, und die Tage schlugen mit ihren Krallen zu. Jahrelang hatte er angenommen, dass die Geschehnisse immer schlechter verliefen. Die Zukunft würde noch schlimmer und böser sein als die Vergangenheit, die Menschen dümmer und heimtückischer. Wollten Wehrlose wie er überleben und Gefängnissen, Tod und Krankenhäusern entgehen, dann gab es für sie nur die Waffe, Zuflucht in immer kunstvolleren Namensfälschungen zu suchen, weil sonst nur Wahnsinn und Trunksucht blieben. Ja, für ihn war die Bar der beste Zufluchtsort. Stundenlang saß er dort, trank und trank. Er merkte nicht, wie die Zeit verrann, wie seine Augen ins Nichts starrten, bis sich eine ihm unbekannte Hand auf die Schulter legte. Er wusste nicht, ob Mariam zu ihm zurückkehrte oder ob es die Hand des Barkeepers war oder die Hand seines Freundes Josef Karmali, des Ausweisfälschers Josef K. oder die Hand seines Freundes Harun Wali, des Schriftstellers, der ihm vor vielen Jahren seinen Namen hinterlassen hatte, bevor er nichts als seine nackte Haut ins Ausland rettete, ins weite Land des Teufels. Es hatte keine Bedeutung, wessen Hand es war. Wichtig war nur, dass die Hand sanft auf seinen Stuhl an diesem schmutzigen Tisch herunterglitt und er die Augen öffnete, die er geschlossen hatte, um über die durcheinandergeratenen Erinnerungen und Zweifel nicht mehr nachsinnen, die wiederholtenFlüche nicht mehr hören zu müssen. Er wusste,

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