Jussifs Gesichter
Tatsächlich aber konnte er sich erinnern, dass seine Mutter mit Dutzenden anderer Menschen verbrannte und nur ein Aschehäufchen von ihr zurückblieb. Er wollte seiner Tante sagen, dass ihm immer noch das Herz blute, weil er seiner Mutter keine tröstliche Trauerfeier bereiten konnte. Er war damals ständig auf der Flucht, von einer Stadt in die andere, von einem Ort zum anderen, seit er die Papiere seines Bruders aus Mariams Schlafzimmer hatte mitgehen lassen. Er wollte sie fragen, ob sie wisse, wohin Mariam mit ihren Töchtern gegangen sei, warum sie ganz allein in diesem Haus verharre, was sie hier mache, wie sie lebe. Aber er unterließ es. Vielleicht fürchtete er, all dies auf einen Schlag und viel zu schnell zu hören. Es war besser, das Erzählen ihr zu überlassen. Langsam, Stück für Stück, in Raten würde sie ihm alles berichten. Er wollte wirklich verstehen, was geschehen war. Ihm erschien alles merkwürdig, und er fand keine Erklärung.
Er drückte einen Kuss auf ihre Stirn, doch sie bewegte sichihm keinen Zentimeter entgegen. Es war, als sei sie an ihrem Platz festgefroren; nur ihre Lippen formten Sprache. Selbst die Zigarette, deren Asche auf ihre Brust fiel, löste keinerlei Regung bei ihr aus. Jussif nahm ihr die Zigarette schließlich aus den Fingern. Ihre Hand war schlaff, weich, fügsam, sie leistete keinen Widerstand. Jussif nahm ihr auch das Glas weg; er wusste jetzt, dass es leer war. Erst als er sich von ihr abwandte, bemerkte er, dass sie blind war.
Jussif spürte, wie ihre Hand nach seinem Kopf suchte und über sein Haar strich, wie sie es zu tun pflegte, als er noch ein kleiner Junge war. Ihre Hand war jetzt sanft und zart, weicher auch als die Hand seiner Mutter. Damals tat er das Unmögliche und versuchte seiner Mutter durch erfundene Geschichten die Erlaubnis abzuringen, dass er allein nach Basra reisen dürfe, um seine Tante zu besuchen. Er verwendete stets das Argument, neue Markenkleidung zu brauchen, die seine Tante aus Kuwait mitbrachte; außerdem gab es damals in Basra einen besonderen Markt für Waren aus Kuwait. Aber seine Mutter sagte ihm, er hätte genug Kleidung, vor allem Hosen, Hemden und Jeans. Daraufhin behauptete er, seine Tante besuchen zu wollen, um den Töchtern seines Onkels das »stille Wasser« einer besonderen englischen Marke mitzubringen, das die Kinder damals tranken. Später, als die Frau seines Onkels zusammen mit ihren Töchtern vor dem Onkel die Flucht ergriff und niemand wusste, wohin, musste er sich andere Ausreden einfallen lassen. Noch später erfuhr er von seiner Mutter, die ihn einmal bei Onkel ‘Assim besuchte, dass sie wieder geheiratet habe, einen Heeresoffizier, dessen Einheit auf den Truppenübungsplatz Abu Qasim bei Basra verlegt worden war.
»Jussif, mein Schatz«, sagte sie, die Hand weiterhin in seinem Haar. »Jahrelang habe ich auf diesen Tag gewartet, um endlich das Esszimmer wieder herrichten zu können und alles zu kochen, was dir schmeckt. Du isst doch gern Quitten? Undmit Zwiebeln und Korinthen gefüllte Datteln? Dein Schlafzimmer ist oben. Ich habe es heute Morgen für dich vorbereitet. Laken und Decken sind sauber. Geh nur nach oben und schau es dir mit eigenen Augen an. Geh nur hoch, mein Schatz. Wenn nicht, rede ich weiter und weiter. Keiner kann mich am Reden hindern. Ich werde erzählen und weiter erzählen. Alles ist Geschichtenerzählen! Warst du es nicht, der immer gesagt hat: »Alles ist wie Geschichten«? Komm her, mein Schatz. Ich möchte dir noch einen Kuss geben, bevor du zum Dach hinaufsteigst.«
Sie gab ihm noch einen zärtlichen Kuss. Jussif zog den Kopf ein und schaute sie an. Dann wich er einen Schritt zurück, hob den Koffer auf und wandte sich zur Treppe.
Bevor er sein Zimmer unter dem Dach erreichte, betrat er Mariams Zimmer. Es war vollkommen leer, sauber, als hätte eine fleißige Hand es vor wenigen Minuten geputzt und jede Erinnerung weggewischt. Nichts erinnerte an Mariam und ihre Töchter. Kein Hauch ihres teuren Parfüms. Plötzlich fiel sein Blick auf die Vorhänge – sie waren noch da, das Einzige, was noch an seinem Platz hing. Er stellte den Koffer mit einem merkwürdigen Geräusch auf den Boden und sah zum Fenster. Dort hatte seine Schwägerin ausgeharrt, als sie tage-und nächtelang seinen Bruder herbeisehnte. Später stand sie am selben Ort und wartete auf ihn, wartete, dass er nach einem seiner Streifzüge durch die nächtlichen Bars zu ihr fand. Jene Nacht ging ihm durch den Kopf, als seine
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