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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Ihre Augen fragten und antworteten. Ihre geschlossenenMünder hielten Hilferufe und Heulen zurück, in ihren Augen schimmerten Fragen und Klagen. Nur ihre Herzen pochten . Schritt für Schritt schleppten sie sich voran, und dort, vor ihnen, tat sich der Weg auf, in Erwartung, das Haus, das Höllenhaus, ihr Haus zu sehen. Mal rannten sie wie aufgestachelte Stiere, mal stolperten sie wie müde Esel voran. Wann immer ihre Füße den Staub der Straßen durch ihre Städte aufwirbelten, wann immer sie durch die Gassen irrten, in denen sie wohnten, und sich ihren Häusern näherten, drückten sie sich wie schwer beladene Maultiere an die Wände, voller Angst, bemerkt zu werden. Sie hetzten vergeblich durch diese Gassen. Doch wenn sie dann die Türen ihrer Häuser erreichten und sie verschlossen vorfanden, sie, die die Schlüssel verloren hatten, klopften sie ängstlich ans Fenster, um nicht den Argwohn der Passanten oder die Verleumdung der Nachbarn herauszufordern, um nicht wieder an die Todesfront geschickt zu werden und gegen Einsamkeit, Schmutz und Zerstörung ankämpfen zu müssen. Sie wussten, dass ihr Erscheinen Misstrauen weckte. Es hatte nicht einmal Sinn, in den Spiegel zu schauen. Sie hörten nur das Pochen ihrer Herzen: dum, dum, dum ...
    Für eine Sekunde, für eine einzige Sekunde nur würden sie den Geruch ihrer Mütter, ihrer duftenden Ehefrauen wahrnehmen. Ihre Kinder würden sie von weitem am Schritt erkennen. Das ist die Wette, die ihr Blut in den Adern zur Wallung brachte. Wer in sein Haus zurückkehrte, der brauchte keinen Schlüssel, selbst wenn er heimlich kam.
    Man würde ihm öffnen. Würde sein Bruder, verzweifelt wie er, Minuten lang unter dem Fenster stehen und sich schließlich nähern, bis er etwas entdeckte, das ihn die Flucht ergreifen und zu sich sagen ließ, »Das ist nicht mein Zuhause«, während er ziellos umherstreifte und an alle Türen klopfte? Er würde durch die Stadt streifen, von Gasse zu Gasse wanken, von Haus zu Haus, um nach seinem Elternhaus zu suchen, nachseiner Mutter, nach Mariam, nach seinen Töchtern. Wie ein Häftling unter der Folter würde er die Menschen anflehen: Rifqa – Milde, Rahma – Erbarmen, Schafaqa – Gnade, Ra’fa – Mitleid! Keiner würde sein Gestammel begreifen. Und wenn er verzweifelte, würde er eine andere Stadt aufsuchen, um eine neue Odyssee an noch mehr Häusern vorbei zu beginnen, er, der seit jenem Tag, seit dreizehn Jahren, umherstreifte, um nicht verhaftet zu werden. Denn sonst würde man ihn in eines ihrer zahllosen Gefängnisse werfen, foltern, erniedrigen und beleidigen, bevor man ihn ins Irrenhaus steckte.
    Er wusste nicht mehr, wer ihm die Geschichte von diesem Soldaten erzählt hatte, die er mit seinem Bruder in Zusammenhang brachte. War es einer der Soldaten aus der geheimen Bar, der Mekka-Bar, gewesen? Seit er diese Geschichte gehört hatte, hielt er es für möglich, dass sie die seines Bruders gewesen sein könnte, bevor er endgültig untergetaucht war. Je mehr er jedoch über diese Geschichte nachdachte, desto mehr fragte er sich, warum der Soldat nicht laut geschrien hatte. Hatte er seine Frau mit einem anderen, mit seinem Bruder vielleicht, schlafen sehen und wollte seinen Augen nicht trauen? Warum sonst war er nie bis zur Haustür gekommen und hatte sie, die wahrscheinlich ohnehin offen stand, nicht aufgestoßen? Hatte seine Mutter nicht darauf bestanden, die Tür offen zu lassen, und hatte sie die Tür nicht immer dann, wenn Mariam oder er sie geschlossen hatten, ganz überraschend wieder geöffnet, und wachte sie nicht manchmal mitten in der Nacht nur deshalb auf? Als Mariam sich aus diesem Grund einmal mit der Mutter stritt, behauptete diese, die Heimkehr seines Bruders abzuwarten. Ein andermal fragte sie, ob Mariam in der vergangenen Nacht nichts vernommen hätte, sie selbst habe Junis’ Schritte erkannt. Er sei gekommen, habe gebadet, Mariams Zimmer betreten und sei dann wieder hinausgeschlichen. Wahrscheinlich wolle er nicht, dass jemand sein Kommen bemerke,und fürchte, dass die Nachbarn ihn verrieten. Wussten seine Mutter und seine Tante, dass er, Jussif, es war, der in jenem Zimmer mit der Frau seines Bruders schlief? Glaubten sie wirklich, dass sein Bruder gefallen war, nachdem ein Soldat ihnen einen Brief mit der Todesnachricht überbracht hatte? Sie hatten nicht um die Auslieferung seines Leichnams gebeten. Wie so viele verzweifelte Menschen fürchteten sie sich, die Frage nach der Leiche ihres Sohnes zu stellen.

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