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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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nicht beenden, sondern hatte mir die Kassetten dagelassen, um mich auf die folgende Szene vorzubereiten. Nichts sollte mich überraschen. So stand es um ihn vom Moment unseres Kennenlernens an, als ich ihn ins Krankenhaus brachte, bis hin zu unserer letzten Begegnung: Er war verrückt nach Ordnung. Mit allen Mitteln wollte er auf Sorgfalt und Genauigkeit achten – auf diese Dinge, die wir allesamt schon in unserer Kindheit und dann in unserem weiteren Leben vermissten.
    Doch dieser Gedanke hielt nicht länger an als die verdächtige, süße Trägheit, die mich bei solchen Gelegenheiten überwältigt. Als ich die Muskeln lockerte und die Lider öffnete, wurde mir bewusst, dass ich noch lange nicht genug geschlafen hatte. Was während des Liegens auf dem breiten Bett passierte, war ein Kampf zwischen Schlafen und Wachen, Traum und Albtraum, Zweifel und Gewissheit, Wirklichkeit und Erfindung. Es war ein Kampf zwischen dem, was ich bereits von den Kassetten gehört, und dem, was ich noch nicht gehört hatte, mir aber mit viel Willenskraft und Mühe ausmalen konnte. Letztlich war es auch ein Kampf zwischen mir, der auf dem Bett lag, und Jussif, der jetzt vielleicht anwesend war und nicht irgendwo anders, wie er es seit seiner Flucht immer geplant hatte. In diesem Moment hatte ich plötzlich das seltsame Gefühl, dass der Kassettenrekorder über mich sprach. Ja,ich hatte ihn dort hingestellt, um zu hören, was er zu erzählen hatte. Das Problem zwischen Jussif und seinem Bruder war also in Wirklichkeit ein Problem zwischen Jussif und mir. Es war, als würde ich alles, was geschehen war oder wovon ich mir vorstellte, es sei so geschehen, schon seit langem wissen. Es war, als setzte ich zu einem kleinen Sprung durch mehrere Personen an, als erschaffte ich mir eine frühere Existenz, in die ich mich verstrickte – ganz zu schweigen von dem, was ich auf dem Kassettenrekorder gehört oder noch nicht gehört hatte. Ich versetzte mich gleichsam an Jussifs Stelle, um alles zu erleben, was ihm zugestoßen war. Je länger dieser Gedanke anhielt, desto mehr fühlte ich mich befreit von dem, was ich gehört und noch nicht gehört hatte, als wäre der Kassettenrekorder weit weggebracht worden oder als wäre ich nicht mehr in diesem Haus, läge nicht mehr auf diesem breiten Bett, ja als wäre ich nicht wegen einer anderen Person hier. Es war, als wäre ich Jussif, der auf meine Ankunft wartete, als wäre ich der Verletzte, der im Krankenhaus lag. Ich wusste, dass ich sterben würde, und bat ihn, mein Haus aufzusuchen, egal, wo es sich befand – ein Haus an einem Nirgendwo. Und ich sagte ihm, dass er nur den Kassettenrekorder einschalten müsse, um die Wahrheit zu erfahren. Ich bat ihn, dort zu bleiben und mich die Geschichte ihm oder dem kleinen Mädchen an seiner Seite erzählen zu lassen – von Anfang bis Ende, ob sie nun der Wahrheit entsprach oder erfunden war. Die Art und Weise, wie ich meine Geschichten erzählte, spielte keine Rolle. In der Folge erzählte er mir nicht nur seine Geschichte, sondern auch die Geschichten anderer Menschen. Zunächst hatte ich gedacht, ich könnte ihn dadurch heilen, dass ich ihm Geschichte auf Geschichte erzählte. Aber es war so, dass er mir seine Geschichte erzählen musste oder, schlimmstenfalls, eine Geschichte, von der ich glaubte, dass sie mit ihm, eigentlich aber mit niemandem zu tun hatte: die Geschichte eines Verrückten, voller Geschreiund Gewalt, Mord und Verrat. Wichtig war nur meine Anstrengung, um mit ihm zusammen bis zu einem gewissen Punkt zu gelangen: Ich musste dem lauschen, was er mir zu sagen hatte. Ich bin geheilt: Sie müssen sich von heute an keine Sorgen mehr machen. Der Schaden, den ich Ihrer Existenz zugefügt habe, genügt. Ich weiß, es ist ein seltsames Gefühl, und es ist nicht einfach, sich davon zu befreien. Aber es ist auch ein neues Gefühl für mich! Gebt mir – trotz der Unordnung, die meine Gedanken deutlich sichtbar hinterlassen haben – die Schätze meines Geistes zurück.
    Es war wirklich erstaunlich: Trotz der Dunkelheit, die mich von allen Seiten umschloss und mir ungewöhnlich schwarz erschien, spürte ich, dass sich meine Lider ganz leicht öffneten. Ich konnte genau sehen, was mich umgab, und fragte mich, wie spät es wohl sei. Im selben Moment antwortete ich mir aber: »Es ist egal, es sei, wie es sei.«
    Ich spitzte die Ohren. Durch das Fenster vernahm ich ein leises Zwitschern, das aus dem Garten kam. Sicher dämmerte es schon, und die Vögel des

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