Jussifs Gesichter
frühen Morgens waren genauso erwacht wie ich. Auch sie vergewisserten sich zuerst, dass eine weitere Nacht vergangen war und sie noch am Leben waren. Dann bereiteten sie sich auf den kommenden Tag vor. Auch der Morgen gähnte noch im Schlaf und versuchte, sich von sich selbst zu befreien. Aus der Ferne hörte ich einen Schnellzug. Je weiter er sich entfernte, desto mehr stellte ich mir vor, wie das Geräusch die Grenzen einer neuen Strecke absteckte, als sei ich einer der Reisenden, die am nächsten Bahnhof aussteigen würden.
Ich reckte die Glieder und richtete mich ein wenig auf. Dann streckte ich die Hand nach der kleinen Kommode aus, die neben dem Bett an der Wand stand, und holte meine Uhr heraus. Ich warf einen Blick auf das phosphoreszierende Zifferblatt: Es war etwa vier Uhr. Mir fiel ein Satz ein, von dem ichnicht mehr wusste, wo ich ihn gehört oder gelesen hatte: »Dies ist der Moment, in dem der Kranke merkt, dass er reisen, dass er eine Nacht in einem unbekannten Hotel verbringen muss. Wenn das Licht unter der Türschwelle hindurchscheint, erwacht mit Glück das Ergebnis irgendeines Gedankens.«
Was mich betrifft, saß der Kranke allerdings nicht in einem unbekannten Hotel, sondern in einem Haus mitten in der Stadt, einem Haus an einem Nirgendwo. Er befand sich nur an Stelle des Kranken. Er lag auf dessen Bett und stellte sich den Lichtschein nur vor. Dieser Schein stammte vom Phosphor im Innern seiner Uhr, die er neben eine Tageszeitung, eine dicke Arztbrille und den Kassettenrekorder in die Nähe des Telefonapparats gelegt hatte. Er war verwirrt und konnte sich auf keine einzige Geschichte konzentrieren. Er vernahm nur einen von allen Zimmerwänden widerhallenden Satz: »Wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen, hören Sie an, was der Kassettenrekorder erzählt.« Er drückte den Einschaltknopf des Kassettenrekorders, rieb sich die Augen und blickte um sich, als erwachte er aus einem langen Albtraum. Und er erkannte – oder bildete es sich ein – das Gesicht eines elfjährigen Mädchens, im Dunkel hinter der Fensterscheibe. Ja, alles deutete auf die wirkliche Sarab hin – eine dort harrende Fata Morgana. Jetzt streichelte sie die Hand des Mannes auf dem breiten Bett, viel zu breit für seinen ausgezehrten Körper. Seine Lippen murmelten etwas, das nur das Mädchen verstand. Er bat sie, nicht zu vergessen, was ihm und den Menschen in seiner Umgebung zugestoßen war. Auch die Geschichten, die er ihr erzählt hatte, sollte sie nicht vergessen, egal wie alt sie werden sollte. Jede einzelne seiner Geschichten sollte sie sich wieder und wieder vergegenwärtigen, bevor sie aufstehen und sich in eine andere Person verwandeln würde. Er würde seine tägliche Reise durch vertraute Orte antreten, und vor seinen Augen würde – gewollt oder ungewollt – das Bild erscheinen: das Bild Jussifs.
Der Kassettenrekorder
Erstes Kapitel
Auf der Flucht vor sich selbst zu sich hin:
die Erinnerung an das kleine Mädchen mit
den grünen Augen, den blonden Zöpfen
und dem blauen T-Shirt
Ich sehe ihn vor mir: Es war ungefähr vier Uhr morgens, als Jussif Mani durch eine warnende Stimme geweckt wurde: »Der jüngste Tag ist angebrochen, und der Mörder muss seine Schulden begleichen.« Es war keiner dieser vertrauten Albträume, die ihn sonst heimsuchten. Seit der Anrufer anfing, ihn zu belästigen, hörte er immer wieder dieselbe Stimme, die ihn daran erinnerte, dass der jüngste Tag gekommen sei und er sich dieses Mal bereithalten müsse. Er gab dem Sprecher keine Gelegenheit, deutlicher zu werden. Sicher handelte es sich um einen Irrtum. Denn Junis war ursprünglich gar nicht sein Name, wie der Sprecher voller Überzeugung behauptete, sondern der Name seines älteren Bruders, der seit etwa zwölf Jahren untergetaucht war. Damals hatte er beschlossen, seinen alten Namen für immer zu begraben und sich einen neuen Namen zuzulegen. Aber der Besitzer der fremden Stimme forderte vehement Rache. Er hörte nicht auf, ihn anzurufen – tagsüber bei der Arbeit, nachts zu Hause – und stets denselben Verdacht zu äußern. Er ließ ihm nicht einmal eine Sekunde Zeit, Fragen zu stellen.
In Wirklichkeit hatte Jussif bisher geglaubt, die Namensänderung sei eine Angelegenheit, die der Vergangenheit angehörte. Eigenhändig hatte er die Sterbepapiere für seinen Bruder abgestempelt. Er hatte keine Ahnung, warum diesesThema plötzlich wieder aufgewärmt wurde. Seine Unruhe verstärkte sich noch, als ihm zwei oder drei
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